Gnosis
Publikum. Etwas in der ersten Reihe fiel ihr auf. Im grellen Licht der Scheinwerfer konnte sie unmöglich mehr als eine Silhouette erkennen, doch bei diesem Anblick lief es ihr eiskalt über den Rücken – ein großer Hund.
Plötzlich war sie sicher, dass der blinde Mann da war. Sie stellte sich vor, wie er ihre Gedanken las. Sie schluckte und hielt die Luft an. Es war lächerlich. Sie war nur mitgenommen, und ihre Phantasie spielte verrückt. Da war kein Hund – und auch kein Herrchen.
Spiel! Dann kannst du wieder fühlen.
Konzentriert wartete Winter auf ihren Einsatz. Mit sattem, düsterem Klang spielte das Orchester das Violinkonzert in d-Moll von Jean Sibelius. Das Meisterwerk des finnischen Komponisten war ihr Lieblingsstück, nicht nur wegen der prachtvoll verwobenen Melodien, sondern auch wegen des unglaublichen Ideenreichtums in ihrem Solo.
Endlich war es so weit. Sie setzte ihre Geige an und ließ sich die Musik auf sich wirken. Während der dreiundvierzig Minuten des Konzertes spielte Winter wie nie zuvor – aus vollem Herzen. Ihre Trauer und die neugewonnene Freiheit klangen in dem großen Saal wie von einem Seelenvogel. Als sie ihren Bogen – dem dramatischen Crescendo entgegen – über die Saiten ihrer Stradivari peitschte, liefen Tränen über ihre Wangen.
Alles verschwamm vor ihren Augen, doch das machte nichts. Winter kannte das Stück auswendig. Sie lenkte das Orchester, und der Dirigent folgte. Die anderen Musiker sammelten sich hinter ihr, füllten jede Lücke, die ihre Geige ließ, schufen eine klingende Woge, die mehr als nur Musik war. Es war reine Emotion.
Kühne Gefühle gellten aus ihrer Seele hervor. Nein, nicht nur aus ihrer Seele, sondern aus den Seelen aller. Winter ritt diese emotionale Attacke, doch war sie nicht allein. Trauer, Hoffnung und Sehnsucht flossen nicht nur aus ihr heraus, sondern durch sie hindurch, und zwar vom gesamten Sinfonieorchester. Inzwischen spielten sie nicht mehr nur ihre Instrumente, sie ließen ihre Herzen singen.
Als das Orchester den letzten Ton spielte, schien es Winter, als seufzten alle hinter ihr, wie nach einem strapaziösen, läuternden Erlebnis. In dem Sekundenbruchteil zwischen dem Moment, in dem sie ihren Bogen von den Saiten hob, und der Reaktion des Publikums sah sie sich kurz um.
Erst konnte sie nicht begreifen, weshalb ihre Gesichter so glänzten, doch dann verstand sie. Winter war nicht die Einzige gewesen, die während der Aufführung geweint hatte. Nach den feuchten Wangen und den roten Augen zu urteilen, hatte das ganze Orchester Tränen vergossen.
Bevor sie überlegen konnte, was geschehen war, hatte sich das Publikum erhoben. Der Applaus war wie ein Donner, hallte von den hohen Wänden und traf sie mit physischer Gewalt. Sie wischte mit dem Handrücken über ihre Wange und lächelte, sie ließ sich vom Jubel umarmen.
Sie verneigte sich tief, genoss den Beifall und die Bewunderung, die das Publikum in Wogen kundtat. Als das Saallicht anging, hob sie ihr Kinn und lächelte zum Balkon hinauf. Ihr Blick verfinsterte sich.
Denn dort, kaum dreißig Meter entfernt, stand Michael, ganz vorn in der Loge.
KAPITEL 19
30. DEZEMBER 2007 – 20:12 UHR (27 STUNDEN, 48 MINUTEN BIS ZUR NACHT DES JÜNGSTEN GERICHTS)
Als die Aufführung vorüber war, applaudierte Michael so heftig, dass seine Hände brannten. Noch nie hatte er etwas derart Schönes erlebt. Einmal mehr wurde er daran erinnert, weshalb er sein Leben für diese unfassbare Frau weggeworfen hatte. Selbst die körperliche Liebe war nie derart intensiv gewesen. Zwar hatte ihm bei Winters Aufführungen noch jedes Mal der Atem gestockt, doch heute Abend war es anders.
Es war, als würde jede Note nur für ihn gespielt, eine Sinfonie weinender Engel. Das Gefühl überstrahlte alles – auf eine Art und Weise lebendig, die er nicht begreifen konnte. Er keuchte förmlich, als Winter beim letzten Ton angekommen war.
Während er jedoch applaudierte und noch in beinah postkoitaler Seligkeit schwelgte, spürte er eine Trübung … als hätte jemand das Gefühl aus ihm herausgesogen. Plötzlich war er leer und allein, er hatte keine Ahnung, wie er empfinden sollte, wenn ihre Musik ihm nicht den Weg wies.
Abrupt füllte sich das emotionale Vakuum mit allem Schmerz, den er je empfunden hatte. Nie wieder würde er sie besitzen. Er würde nur draußen stehen und durchs Fenster hereinsehen. Nachdem er ihre Liebe erlebt hatte, wäre sein Leben auf ewig kalt und leer.
Michael griff in
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