Gnosis
seine Tasche und schloss die Hand um seine .38er. Warm fühlte sich der Stahl an. Er hatte Winter von Angesicht zu Angesicht sehen wollen, doch jetzt konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Keine Sekunde länger durfte sie ohne ihn leben.
Michael zog die Waffe aus seiner Tasche und wollte sie eben über das vergoldete Geländer heben, als Winter den Kopf hob … und sich ihre Blicke trafen.
Winter starrte Michael an, sie konnte nicht wegsehen. Die Stimmung im Saal schlug um, und ihr ganzer Schmerz trat an die Oberfläche.
Wie sehr sie Michael hasste, weil er sie belogen hatte. Dass sie bei allem Hass seiner Berührung unmöglich widerstehen konnte. Und wie einsam sie sich fühlte – immer schon. Eine Zeit lang hatte Michael ihr diese Einsamkeit genommen, doch als sie feststellen musste, dass er verheiratet war, hatte sie ihre Verlassenheit heftiger empfunden als je zuvor. Sie spürte den Schmerz, und das Gefühl von Verlust erdrückte sie.
Und dann dachte Winter an ihre Mutter. Was sie gemeinsam durchgemacht hatten. Dass sie Winter beschützt hatte. Immer wenn eine weitere Romanze zerbrach, war ihre Mutter da gewesen und hatte ihr zur Seite gestanden.
Jetzt gab es sie nicht mehr, und Winter war tatsächlich so allein, wie sie sich fühlte.
Plötzlich hörte sie einen tiefen Ton, es war die überwältigende Trauer, eine Last, unter der sie zu ersticken drohte. Sie versuchte, das quälende Gefühl beiseitezuschieben und den traurigen Klang hinaus ins Leere zu lenken.
Michael spürte den stechenden Schmerz, als der dunkle Ton in seinem Geist widerhallte.
Was machte er da? Wollte er wirklich ein so einzigartiges Wesen töten?
Was war er für ein Mensch?
Sein Hass verflog, als der herzzerreißende Ton, den nur er allein hören konnte, zu einem ohrenbetäubenden Akkord wurde. Er liebte sie noch immer. Dass sie ihn so schroff zurückwies, änderte nichts daran. Es war seine Schuld. Er hatte sie verletzt.
Michael ließ die Waffe fallen, sie kam mit einem dumpfen Schlag auf dem Boden auf. Sein Herz war von unbeschreiblicher Trauer erfüllt. Plötzlich wurde ihm klar, was er tun musste. Er streckte die Hände aus und griff nach dem polierten Messinggeländer des Balkons, glatt und kühl.
Einmal noch sah er Winter an. So schön. So traurig. Und ein solcher Schmerz … das Brennen schien ewig anzudauern, ohne Anfang, ohne Ende, bis in die tote Ewigkeit.
Er beugte sich über das Geländer und verlagerte sein Gewicht nach vorn. Einen Moment lang schwankte Michael auf der Stelle und hielt die Balance. Dann riss ihn die Erdanziehung nach vorn. Während er den leeren Holzstühlen entgegenstürzte, dankte Michael Evans Gott dafür, dass der unerträgliche Ton in seinem Kopf ihn gleich nicht mehr quälen würde.
Die Menge hörte auf zu klatschen, kurz bevor Michael auf die Stühle im Orchestergraben stürzte. Der Aufprall war ein hässliches Krachen – berstendes Holz und splitternde Knochen. Dann ohrenbetäubende Stille.
Keiner hustete. Niemand rührte sich. Winter fasste sich als Erste wieder. Sie rannte über die hölzerne Bühne. In ihren Augen brannten Tränen.
Dann sah sie ihn. Bäuchlings lag er da. Eines seiner muskulösen Beine ragte in die Luft, das andere war seltsam abgespreizt wie bei einem kaputten Zinnsoldaten. Seine Arme wie nutzlose Flügel. Sein Schädel war an der Seite eingedrückt und lag im Blut.
Sie blickte in Michaels leere Augen, und ihre Kehle schnürte sich zusammen. Nicht etwa weil da Blut war – es lag an seinem Gesicht.
Darin stand Erlösung.
KAPITEL 20
30. DEZEMBER 2007 – 20:13 UHR (27 STUNDEN, 47 MINUTEN BIS ZUR NACHT DES JÜNGSTEN GERICHTS)
Nachdem sie ein Päckchen Twizzlers, eine Tüte Popcorn und zwei Pepsis gekauft hatten, betraten Elijah und Stevie den abgedunkelten Kinosaal. Die Trailer für kommende Filme liefen schon. Ein silbriges Raumschiff fegte über die Leinwand, während sie Plätze suchten. Grimes fand zwei am Gang, er ließ sich auf den Klappsitz fallen und grinste von einem Ohr zum anderen vor gebutterter Popcornseligkeit.
Elijah sah sich um und seufzte schwer. Die Lawine von Gefühlen, die normalerweise inmitten so vieler Menschen über ihn hinwegging, kam diesmal nicht. Er schloss die Augen, und ein wohliges Kribbeln breitete sich in ihm aus, als badete er in warmem Vanillepudding.
Er fühlte sich gut, so gut wie lange nicht, offenbar hatten sich seine Neurosen in Luft aufgelöst. Er fragte sich, ob sein Experiment wohl funktionieren
Weitere Kostenlose Bücher