Gnosis
«Pater Sullivan erwartet Sie. Kommen Sie bitte.»
Darian folgte der Nonne, vorbei an schweren Kirchenbänken und durch eine schmale Tür hinter dem Altar. Sie gingen hintereinander eine enge Wendeltreppe hinauf, und ihre Schritte hallten in dem hohen Steinraum. Oben befand sich eine große, schwere Tür. Schwester Christina klopfte leise, als fürchtete sie, dahinter jemanden zu wecken.
«Herein», sagte eine müde Stimme. Sie klang nicht eben einladend.
Schwester Christina öffnete die Tür und schob Darian hinein. Der Raum war unerwartet groß. Sogar ein massiver Schreibtisch aus Eichenholz, ein paar bequeme Stühle und ein kleines Sofa passten hinein. Sonnenlicht fiel durch das Buntglasfenster, was dem Zimmer etwas Unwirkliches verlieh.
Ungeduldig bat der Priester sie, näher zu treten, er bedeutete ihr, Platz zu nehmen, und gleichzeitig Schwester Christina, dass sie jetzt gehen könne – was sie auch tat.
«Es tut mir leid, dass Sie den weiten Weg auf sich genommen haben, aber ich habe Ihnen doch schon am Telefon gesagt, dass Jill keinen Besuch empfängt.»
«Sie haben mir nicht erklärt, warum», sagte Darian.
«Nein, das habe ich nicht.» Unbehaglich rutschte der Priester auf seinem großen Ledersessel herum. «Und ich sehe auch nicht, weshalb es Sie etwas angehen sollte.»
Darian öffnete ihr geistiges Auge weit und spürte … nichts. Es war, als wäre der Mann überhaupt nicht da. Ihr Leben lang hatte Darian schon beobachtet, dass die Gefühle mancher Menschen deutlicher waren als die anderer, offensichtlicher und ansteckender. Aber noch nie war sie jemandem begegnet, der so völlig leer war. Sie brachte ihre ganze Konzentration auf und ertastete die strukturlose Hülle, die ihn schützte.
Instinktiv legte sie ihre Hand auf die des Priesters, und seine Mauern brachen in sich zusammen. Urplötzlich lagen seine wirren Emotionen bloß – nasse, kalte Erschöpfung, Schuldgefühle und schneidende Angst.
Zwar war sich Darian bewusst, dass es diese Empfindungen nur in ihrem Kopf gab, doch deshalb waren sie nicht weniger schmerzhaft. Die Synapsen, die in ihrem Gehirn explodierten, unterschieden nicht zwischen «realen» und «empathischen» Gefühlen. Da war es unerheblich, ob ihre Arme tatsächlich in Eiswasser getaucht waren, ob ihr Oberkörper wirklich gegrillt wurde, ob man ihr mit einer Säge in die Beine schnitt – oder ob es sich nur so anfühlte.
Obwohl Darian wusste, dass nichts von alledem wirklich geschah, waren ihre kreischenden Neurotransmitter ganz anderer Ansicht. Doch im Gegensatz zu «körperlichen Empfindungen», wie Dietrich sie bezeichnet hatte, konnte Darian die nachempfundenen Gefühle kontrollieren. Sie konnte deren Intensität bis zur Ekstase steigern oder sie herunterschrauben, bis sie nur noch ein geringfügiges Ärgernis darstellten – nicht mehr als ein Schmetterling, der sanft auf ihrer Schulter landete.
Wollte Darian jedoch Einfluss auf die Emotionen eines anderen nehmen, sie einsaugen, verdrehen und projizieren, blieb ihr nichts anderes übrig, als diese in ihrer ganzen Pracht zu erleben. Und das tat sie nun – sie absorbierte das Innerste des Priesters, um ihr eigenes Empfinden auf ihn zu übertragen.
«Bitte, Pater …», sagte Darian und versuchte den ängstlichen Priester zu beruhigen. «Ich verspreche Ihnen: Jills Geschichte bleibt unter uns.»
Darian flößte dem Priester Vertrauen ein.
«Nun», sagte Pater Sullivan, und seine Miene wurde weicher. «Wahrscheinlich werden Sie mich für verrückt erklären, wenn Sie hören, was ich Ihnen zu erzählen habe.» Er machte eine Pause und holte tief Luft. «Jill Willoughby ist … besessen.»
Darian war nicht sicher, was sie erwartet hatte, doch das bestimmt nicht. Sie schluckte ihre Verachtung herunter und konzentrierte sich, sodass sie nur kühle Ruhe projizierte.
«Ich halte Sie nicht für verrückt», sagte sie sanft. «Aber warum meinen Sie, Jill sei besessen?»
«Sie kann Menschen dazu bewegen … Dinge zu tun.»
«Was für Dinge?»
«Böse Dinge», flüsterte der Priester. «Dieses Mädchen … ist kein Kind Gottes.»
Entsetzen durchzuckte den Priester. Darian saß wie festgeklebt auf ihrem Stuhl, sie biss die Zähne zusammen, gegen das Brennen auf ihrer Haut. Sie konzentrierte sich und sendete Zutrauen aus. Pater Sullivan holte tief Luft, um sich zu beruhigen, und fuhr fort.
«Seit dem Sommer haben mehrere Lehrerinnen erklärt, ihnen sei in Jills Gegenwart so … sonderbar zumute. Wäre es nur eine
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