Gnosis
mich nicht einfach gehen?»
«Du weißt, warum, Jill.»
«Das ist nicht fair!»
«Ich weiß», sagte Pater Sullivan und blickte zu ihr auf. «Aber darauf hast du keinen Einfluss.»
«Ich kann Sie hierbehalten», sagte Jill. «Man wird nach Ihnen suchen.»
«Nein. Wird man nicht. Ich habe strenge Anweisung gegeben, dass niemand diesen Keller betreten darf.»
«Irgendwann wird man …»
«Sicher nicht, bevor dir das Wasser ausgeht.»
Jill wandte sich um und sah zu dem Eimer mit dem schmutzig grünen Wasser hinüber. Er hatte recht. Wenn sie ihn hierbehielt und im Laufe der nächsten Woche niemand kam …
«Du wirst mich loslassen müssen, Jill.»
Jill schüttelte den Kopf. «Nein.»
«Dann werden wir beide sterben.»
«Das ist besser, als allein zu sterben.» Jill zog die Nase hoch.
«Nein, ist es nicht», sagte Pater Sullivan. «Ich weiß, dass du ein gutes Herz hast, Jill. Das willst du nicht.»
Jill biss sich auf die Unterlippe, sie musste nachdenken. Es hatte eine Zeit gegeben, in der das, was er sagte, die Wahrheit war. Nicht einmal in ihren wildesten Träumen hätte sie sich vorstellen können, einen Menschen zu töten, schon gar nicht Pater Sullivan. Sie hatte ihn geliebt.
Doch nun wollte irgendetwas in ihr diesem Priester Schmerz zufügen. Und trotz aller Bedenken hatte sie – als sie nach Pater Sullivan schlug – ein nicht unerhebliches Vergnügen empfunden. Sie wusste, dass es nicht richtig war, aber ihn dort am Boden zu sehen, unter Schmerzen, fühlte sich unbestreitbar gut an.
Nachdem der Rausch vorüber war und sie nun Macht über Leben und Tod hatte, fühlte sich Jill, als müsste sie sich übergeben. Sie konnte ihn nicht töten. Was er getan hatte, mochte unrecht gewesen sein, aber er hatte es getan, um ihr zu helfen. Was sie tun würde, wäre nichts anderes als Rache.
Und Rache – so gerechtfertigt sie auch sein mochte – war nach wie vor eine Sünde.
Ohne ein Wort ließ Jill los und nahm die Kette von seinem Hals. Sie hob ihr Bein, um aufzustehen, als sie einen flammenden Schmerz am Kopf spürte. Jill riss die Hände hoch, doch der nächste Hieb traf diesmal ihren Unterkiefer und streckte sie nieder.
Sie schrie vor Schmerz, sie schlug mit dem Kinn am Boden auf. Ihre Vorderzähne brachen, und scharfe Splitter schnitten in ihre Zunge. Ihr Mund füllte sich mit heißem, salzigem Blut, und Jill schluckte alles herunter, dankbar für die Flüssigkeit. Dabei verschluckte sie auch die Splitter ihrer abgebrochenen Zähne, doch widerstand sie dem Drang zu würgen, weil sie kein kostbares Nass erbrechen wollte.
Pater Sullivan kam auf die Beine und wich zurück. Einen Moment stand er an die Tür gelehnt, atmete schwer und rieb an den roten Striemen um seinen Hals. Er hielt die Bibel fest in seiner Hand. Vorn auf dem Umschlag war ein kleiner Blutfleck.
Damit hat er dich geschlagen. Er hat dir allen Ernstes eine Bibel ins Gesicht gehauen. Nett. Ein echter Heiliger.
Jill rang den Schmerz nieder und setzte sich auf. Ihr war schwindlig vor Jammer und Erschöpfung, doch sie zwang sich, Pater Sullivan in die Augen zu sehen.
«Ich wollte Sie doch gehen lassen», flüsterte sie. «Warum …?»
Pater Sullivan starrte sie nur an, mit puterrotem Gesicht. Er sprach ganz leise, seine Stimme bebte vor Zorn.
«Ihr habt den Teufel zum Vater, und nach eures Vaters Gelüste wollt ihr tun. Der ist ein Mörder von Anfang an und steht nicht zu der Wahrheit, denn die Wahrheit ist nicht in ihm.»
«Nein», schluchzte Jill. «Es tut mir leid, Pater. Ich … ich will doch nur hier raus … bitte …»
Pater Sullivan atmete tief ein und wieder aus. Es war, als hätte er all seinen Zorn mit ausgeatmet. Voller Mitgefühl blickte er sie an.
«Mir tut es auch leid. Es tut mir leid, dass ich an dir gescheitert bin. Möge Jesus, Marias Sohn, Herr und Retter dieser Welt, dir Gnade und Gefälligkeit erweisen.» Schweigend sah er sie an, als wollte er sich ihr Gesicht einprägen. «Leb wohl, Jill.»
Dann – ohne ein weiteres Wort – wandte sich Pater Sullivan um und ging hinaus. Und Jill wusste: Er würde niemals wiederkommen.
KAPITEL 14
Vor dem schiefergrauen Himmel wirkte der Turm der Kirche geradezu hyperreal. Darian lief ein kalter Schauer über den Rücken, als sie die großen steinernen Stufen nahm. Kirchen vermittelten ihr immer das Gefühl, unwürdig zu sein.
Als sie den dunklen, kühlen Raum betrat, kam ihr eine traurige Nonne entgegen.
«Schwester Christina», sagte die Nonne zur Begrüßung.
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