Gnosis
Wasserstand nie unter die Dreiviertelmarke gesunken. In dieser Woche jedoch ließ er das Wasser zur Neige gehen. Sie wollte um mehr bitten, sogar betteln, fürchtete aber, es würde ihn nur dazu bewegen, ihr auch noch den Rest wegzunehmen.
Jeden Abend also, wenn sie gemeinsam beteten, tat Jill, als würde sie nicht langsam sterben, und Pater Sullivan tat, als würde er sie nicht langsam umbringen.
Als der Eimer fast leer war, sprach sie ihn darauf an.
«Was ist, wenn der Dämon nicht weggeht?», fragte Jill leise nach einem dreiviertelstündigen Gebet.
«Wenn du festen Glaubens bist, wird er auch gehen», sagte Pater Sullivan.
«Aber was ist, wenn …»
«Jill! Wenn du nicht festen Glaubens bist, wird es nie geschehen.»
«Und was dann?»
Pater Sullivan holte tief Luft, schluckte seine Bestürzung herunter. Er kam auf die Beine und zuckte zusammen, er rieb sich die Knie.
«Gute Nacht, Jill.»
Er hinkte zur Tür und war schon draußen. Jill sah zum Eimer hinüber. Sie wusste, dass ein Mensch nicht mehr als fünf Tage ohne Wasser auskommen konnte, was bedeutete, dass ihr nur noch sechs Tage blieben.
Sechs Tage, sich von diesem Dämon befreien zu lassen … oder sie musste sterben.
In weiser Voraussicht, dass sie eines Tages vielleicht fliehen müsste, hatte Jill die Kette am Boden zusammengerollt, damit sie kürzer wirkte. Wenn Pater Sullivan also neben ihr kniete, befand er sich keineswegs außerhalb, sondern gerade innerhalb ihrer Reichweite.
Sie fragte sich, ob diese Hinterlist wirklich … ihre Idee war oder ob sie von jemand anderem stammte.
Vom Dämon in dir.
Falls es da überhaupt einen Dämon gab.
Nein. Pater Sullivan hat recht. Du bist besessen. Wie willst du dir sonst erklären, dass du diese Farben siehst?
Besessenheit war die einzig denkbare Erklärung. Sie konnte ihm nur glauben.
Aber was ist, wenn er sich irrt? Was dann?
Es war eine ausweglose Situation. Wenn sie ihm nicht glaubte, es aber einen Dämon gab, käme sie nie davon frei. Wenn sie ihm jedoch glaubte und es keinen Dämon gab, würde sie sterben, ohne je zu erfahren, was es mit ihren Kräften auf sich hatte.
Jill schloss die Augen und betete. Sie betete jedoch nicht zu Gott, dass er ihr verzieh, was sie getan hatte, sie bat ihn um Vergebung für das, was sie zu tun gedachte.
Nicht nur Jill zählte die Tage. Auch Pater Sullivan. Ihm ging es allerdings nicht um seinen Wasservorrat. Sein Termin war der 9. Dezember, in neun Tagen. Das war das Datum, an dem der Vatikan seine Berufung verkünden würde.
Pater Sullivan wusste nicht, wie lange er sich danach noch um das Alltagsgeschäft von St. Joseph würde kümmern können. Falls der Erzbischof ihn durch einen jungen Priester ersetzen wollte, konnte es innerhalb einer Woche so weit sein.
Was bedeutete, dass Pater Sullivan die Angelegenheit mit Jill Willoughbys Besessenheit sehr bald schon klären musste, so oder so. Zwar hatte er nur Gottes Willen ausgeführt, doch Pater Sullivan zweifelte daran, dass das amerikanische Rechtssystem mit seinem profanen Blick auf die Welt den Fall ebenso sehen würde. Sollte es ihm nicht gelingen, diesen Dämon auszutreiben, durfte Jill auf keinen Fall verraten, was im Keller der Kirche vor sich ging.
Es würde die Kirche in ungeheure Verlegenheit bringen. Darüber hinaus würde er alles verlieren, wofür er sein Leben lang gearbeitet hatte – und das auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Plötzlich kam ihm eine Erkenntnis.
Jill Willoughbys Besessenheit war kein Zufall. Der Vater aller Lügen hatte den Dämon gesandt, um seinen Aufstieg innerhalb der Kirche zu verhindern. Das Ziel des bösen Geistes war es, ihn zu vernichten, nicht das Mädchen.
Pater Sullivan senkte den Kopf. Es blieb ihm keine Wahl. Entweder verließ Jill innerhalb der nächsten Woche den Keller als freie Seele, oder er würde dem Dämon einen Strich durch die Rechnung machen – auf die einzige Art und Weise, die ihm einfiel.
Indem er den Wirt tötete.
KAPITEL 12
Die digitalen Ziffern leuchteten blutrot im dunklen Zimmer. Darian starrte an die Decke und wartete, bis Laszlo eingeschlafen war. Er würde es nicht merken, wenn sie aus dem Bett schlüpfte. Nachdem sie nun seit fast fünf Wochen das Lager teilten, wusste sie, wie fest er schlief.
Um 00:52 Uhr schlug sie die Decke zurück, zog sich leise an und stahl sich aus der Wohnung. Auf dem Weg hinunter in die Lobby nahm sie zwei Stufen auf einmal. Ihr blieben nur ein paar Minuten bis zur Telefonzelle an der
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