Gnosis
Geheimnisse nur noch stärker verbunden. Bis Darian kam, hatte er sich immer allein gefühlt. Jetzt war sie da, und …
Alles, was vorher gefehlt hatte, war nun da.
Die ersten paar Wochen mit Jill waren die schlimmste Zeit in Darians Leben. Selbst später noch, als man sie gefangen hielt, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken, wenn sie daran zurückdachte. Jede Sekunde in Jills Nähe bereitete ihr Schmerzen.
Sobald sie sich dem Mädchen auf drei Meter näherte, kam sich Darian vor wie unter Wasser, wie in einem Meer aus Menschen, in dem Tausende dumpfe Stimmen schrien. Alles war verzerrt. Die Emotionen aller anderen Menschen um sie herum drangen in sie, und durch dieses Chaos an Empfindungen spürte sie Jill – heftig und unentrinnbar.
Jills Gefühle waren derart intensiv, dass Darian sich ihnen zum Teil verschließen musste, um nicht durchzudrehen, was alle anderen Empfindungen auf ein leises Kribbeln in den Fingerspitzen reduzierte. Am schlimmsten war, dass Jills Gefühle so unberechenbar waren – in einem Moment noch glühende Freude, und gleich darauf mutlos, schlaff und lebensmüde. Wie ein Korken im Wasser wurde Darians emotionales Ich herumgewirbelt.
Darians Stimmung schwankte demnach – wie Jills – unablässig. Sie war den Launen dieses Mädchens ausgeliefert, was sie verwirrte und auslaugte. Am meisten bedrückte es sie jedoch, dass nur sie allein spüren konnte, wie gestört Jill tatsächlich war.
Darian war daran gewöhnt, allein dazustehen, wenn es darum ging, die Menschen in ihrer Umgebung zu verstehen. Sie war mutterseelenallein mit ihrer Fähigkeit, die Bösen von den Guten zu unterscheiden. Aber sie hatte noch nie eine Situation erlebt, in der jemand dermaßen durchgeknallt war, ohne dass irgendwer es wahrnahm. Sonst merkten die meisten Menschen sehr wohl, wenn jemand verrückt war.
Was jedoch Jill Willoughby anging, waren alle wie taub. Alle Welt liebte sie. Denn Jill verstand es geschickt, ihre Emotionen auf andere zu übertragen. Darian brauchte ihre ganze Kraft, um leises Entsetzen aufzubringen, damit Zinser und die anderen das Kind nicht noch in die Arme schlossen. Obwohl Zinser Vorsicht walten ließ, Jill so weit wie möglich isolierte und Darian erlaubte, jede Sitzung zu beenden, wenn sie nicht mehr konnte, fürchtete Darian doch, dass sie noch den Verstand verlieren würde. Jeden Abend um 18:00 Uhr sedierten sie Jill, damit sich Darian erholen konnte. Da erst durfte sie ihren psychischen Schutzschild sinken lassen. Manchmal ging sie dann zu Laszlo. Sein sanftes, entspanntes Gemüt war ihr sicherer Hafen.
An den meisten Abenden jedoch schlief sie einfach im Labor, froh und glücklich, den Tag hinter sich gebracht zu haben.
KAPITEL 18
Pater Sullivan stand nackt in dem kühlen weißen Zimmer. Es war leer – bis auf einen langen Metalltisch, auf dem ein kleiner Plastikkasten stand. Nackt zu sein war ihm peinlich, und deshalb hielt sich Pater Sullivan die Hände vor die Genitalien. In der Spiegelwand sah er fett und blass aus.
«Pater, können Sie mich hören?»
Der Priester zuckte zusammen. Er sah sich um, und sein Blick blieb an einem Lautsprecher oben an der Decke hängen. Er starrte hinauf, als er antwortete. Zwar hatte der Mann am Mikrophon nur fünf Worte gesagt, doch Pater Sullivan erkannte die Stimme sofort. Sie gehörte dem Arzt, der ihm den Schädel aufgesägt hatte. Das war inzwischen ein paar Tage her. Vielleicht auch Wochen. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren.
«Ja», sagte Pater Sullivan. «Ich kann Sie hören.»
«Bitte öffnen Sie die Kiste und nehmen Sie heraus, was darin liegt.»
Langsam trat der Priester vor. Mit der Hand strich er über das glatte Plastik. Er hatte Angst vor dem, was sich darunter verbergen mochte. Schließlich schluckte er und versuchte mit den Fingernägeln den Deckel anzuheben. Er schloss die Augen. Halbwegs erwartete er eine Explosion oder sonst irgendetwas Entsetzliches, aber nichts geschah.
Der Priester schlug die Augen auf. Plötzlich kam er sich dumm vor. In dem Kasten lagen versiegelte Plastikbeutel mit einzelnen Kleidungsstücken darin. Er erkannte seine eigenen Kleider, die er an dem Tag getragen hatte, als er entführt worden war. Er nahm die Päckchen heraus.
Zwei Schuhe. Eine Silberkette mit einem Kreuz. Ein großer Ring mit einem eingravierten Bild von Jesus Christus, den ihm der Monsignore geschenkt hatte. Dieser Ring bedeutete ihm mehr als alles andere, und er lächelte, als er ihn sah. Er hatte nicht
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