Gnosis
gedacht, dass er ihn je wiedersehen würde.
«Bitte ziehen Sie die Sachen in der Reihenfolge an, in der Sie sich üblicherweise ankleiden. Nach jedem Teil warten Sie, bis ich Ihnen sage, dass Sie fortfahren sollen. Verstanden?»
«Ja», sagte Pater Sullivan und starrte auf den Lautsprecher.
«Bitte fangen Sie an.»
Ohne Zeit zu vergeuden, riss Pater Sullivan den Beutel mit seinen weißen Boxershorts auf. Er stieg hinein, ein Bein nach dem anderen. Dann blickte er erwartungsvoll hoch zu den kleinen, runden Löchern des Lautsprechers.
«Weiter», sagte die Stimme nach einem Augenblick.
Pater Sullivan zog seine linke Socke an und wartete. Wieder wies ihn die Stimme an, fortzufahren. Dann die rechte Socke. Warten. Weiter. Sein Unterhemd. Seine Hose. Nacheinander zog er die Kleidungsstücke über. Im Spiegel sah Pater Sullivan, wie er sich von einer nackten, ängstlichen Laborratte in jemanden verwandelte, der dem Mann ähnlich sah, der er einst gewesen war. Ob er je wieder derselbe sein würde, bezweifelte er allerdings.
Schließlich nahm er den Ring vom Tisch. Pater Sullivan schloss die Hand darum und schob ihn auf den Finger. Er fühlte sich kalt an, doch als der Priester das vertraute Gewicht spürte, fühlte er sich sofort besser. Er blickte zum Lautsprecher hoch und wartete auf die nächste Anweisung. Fast eine Minute lang blieb alles still. Als er die Stimme wieder hörte, klang sie aufgeregt.
«Nehmen Sie den Ring langsam ab und legen Sie ihn wieder auf den Tisch.»
Der Priester tat, was man ihm sagte. Er fragte sich, ob die Stimme ihn auffordern würde, sich wieder nackt auszuziehen. Was, wenn es nur der nächste Test war? Ein Versuch, ihn zu brechen? Ihm das Gefühl zu geben, er sei ein Mensch, nur um ihm dann wieder die Würde zu nehmen, Stück für Stück? Was wollten sie? Was …
«Berühren Sie den Ring, aber lassen Sie ihn auf dem Tisch liegen.»
Pater Sullivan hielt seinen Zeigefinger an den Silberring und wartete. Er starrte das gravierte Kruzifix an und betete. Er betete nicht darum, dass man ihn freiließ. Er ahnte, dass das nicht in Frage kam. Also betete er stattdessen um Absolution.
Eine Sünde belastete ihn wie keine andere – das, was er mit Jill gemacht hatte. In diesem weißen Raum – ganz allein – wusste er, dass man ihn für das bestrafte, was er ihr angetan hatte.
Man hielt ihn gefangen, wie er Jill gefangen gehalten hatte. Er wurde gefoltert. Man nahm ihm die Kontrolle über sich selbst. Und ließ ihm nur noch das Gebet. Er fragte sich, ob sie wohl solche Angst gehabt hatte wie er jetzt. Er fragte sich, ob er einen Fehler gemacht hatte.
«Nehmen Sie Ihre Hand zurück!»
Die aufgeregte Stimme riss Pater Sullivan aus den Gedanken. Er zog die Hand zurück, und mit einem Mal wurde er wütend. Sein Puls ging schneller, und er verzog das Gesicht. Er biss die Zähne zusammen und atmete durch die Nase, er schnaubte wie ein Bulle.
Wie konnten diese Leute es wagen, ihn so zu behandeln? Er war immerhin ein Mann Gottes. Dazu hatten sie kein Recht. Kein …
«Jetzt nehmen Sie den Ring.»
Hörst du das? Sie kommandieren dich herum wie einen Hund. Willst du wirklich tun, was sie sagen? Willst du Männchen machen und betteln?
«Gut», murmelte Pater Sullivan leise. Er schloss die Finger um das schwere Stück Metall. Im selben Moment fühlte er sich abgekoppelt – wovon, wusste er nicht –, aber er konnte sich nicht beherrschen. Er holte aus und schleuderte den Ring weit von sich.
Der Ring flog durch die Luft, und Pater Sullivan fühlte sich wie zerrissen, eine Mischung aus siegessicherem Zorn und aufschäumender, blauer Angst – dann schlug der Ring auf. Ein scharfes Knacken war zu hören, als der Spiegel zerbarst. Pater Sullivan starrte sein zerbrochenes Spiegelbild an. Sein Grinsen hatte kaum noch menschliche Züge.
Hinter ihm wurde die Tür aufgerissen, und zwei große Männer in dunkelgrauen Uniformen stürmten herein. Sie stürzten sich auf ihn, drehten ihm die Arme auf den Rücken und knallten ihn gegen die Spiegelwand. Die Splitter schnitten ihm in die Wangen, doch er fühlte den Schmerz kaum.
Er spürte nur den Schock. Denn hinter dem Spiegel sah er im Dunkel zwei Gesichter. Eines war das des Arztes, der ihm den Schädel aufgesägt hatte. Das andere kannte er gut. Bis ans Ende seiner Tage würde er diese graugrünen Augen nicht mehr vergessen.
Jill Willoughby musterte ihn mit einer Mischung aus Hass und Genugtuung. Da wusste Pater Sullivan, wo er war. Obwohl ihm klar
Weitere Kostenlose Bücher