Gnosis
Strom, wie ihn die meisten Leute kennen, kommt von hier.» Laszlo deutete auf eine Steckdose. «Dahinter befinden sich Drähte mit freien Elektronen. Wenn Sie einen Stecker in die Dose stecken, fließen die Elektronen in die eine Spitze, durchs Kabel und in die Maschine. Dann fließen sie durch die andere Spitze wieder aus dem Kabel in die Wand zurück.
Deshalb hat jeder Stecker mindestens zwei Spitzen – ‹rein› und ‹raus›. Gäbe es nur einen, könnten die Elektronen nicht fließen, und es gäbe keinen Strom. Dieser elektrische Strom in Form sich bewegender Elektronen sondert Photonen ab, was wir als elektromagnetische Strahlung bezeichnen. Und diese enthalten die Energie, die wir für alles benutzen, von der Lampe bis zum Radio.»
Elijah hob seine zitternde Hand.
«Mr. Cohen?»
«Ich verstehe das ‹elektro› bei elektromagnetischer Strahlung, aber w-w-was ist daran magnetisch?»
«Ausgezeichnete Frage. Jedes Gespräch über Elektrizität wäre ohne eine Erwähnung der magnetischen Felder unvollständig. Genauso wie elektrische Felder finden sich auch magnetische Felder im gesamten Weltraum. Während jedoch elektrische Felder die Kraft zwischen aufgeladenen Teilchen darstellen, stehen magnetische Felder für die Kraft zwischen elektrischen Strömen.
Ströme mit gleicher Ladung stoßen einander ab, während sich Ströme mit unterschiedlichen Ladungen anziehen. Daher findet man also überall, wo es elektrische Felder gibt, außerdem auch magnetische Felder. Daher spricht man von Elektromagnetismus – weil die beiden Felder immer gleichzeitig existieren.»
Laszlo registrierte, dass die meisten Schüler zu verstehen schienen, was er sagte, doch Elijah gab sich nicht zufrieden. «Was geht Ihnen durch den Kopf, Mr. Cohen?»
«Es ist nur … ich dachte, Wissenschaft basiert auf empirischen T-t-tatsachen. Besonders Physik, weil es da immer um Gleichungen geht. Und jetzt sagen Sie, dass elektromagnetische Felder, die sich überall wiederfinden und sich auf alles auswirken, reine Theorie sind. Da stimmt doch was nicht.»
«Es liegt daran, dass Sie einen entscheidenden Faktor in der Gleichung vergessen haben.»
«Welchen denn?»
«Den Glauben.»
Wie aufs Stichwort klingelte es zur Pause. Alle Schüler sprangen auf und redeten wild durcheinander.
«Mr. Cohen, Miss Xu», rief Laszlo über die Klasse hinweg. «Würden Sie bitte noch einen Moment hierbleiben?»
Alle starrten Elijah und Winter an, dann wandten sie sich ab und zogen ihrer Wege. Die beiden sammelten ihre Sachen ein und traten an Laszlos Pult. Sie hatten keine Ahnung, was sie erwartete.
Als alle anderen draußen waren, stand Darian in der letzten Reihe auf und kam langsam nach vorn. Die ganze Stunde über hatte sie sich auf die beiden konzentriert und ihre Emotionen in sich aufgenommen.
Winter war die Stärkere der beiden – zumindest was die Projektion anging. In ihrer Nähe zu sein war, als säße man neben einem Freudenfeuer. Ihr Innerstes war glasklar, hart und schneidend wie ein Diamant.
Elijah war genau das Gegenteil. Trotz seiner starken Aura war es schwer, seine Empfindungen von denen der anderen Schüler zu unterscheiden, da Elijah deren Gefühle in sich aufsog und als wirren Mischmasch wieder ausspie. Unter all diesen gespiegelten Emotionen lag etwas Dickflüssiges, Klebriges, das wie Kleister an Darian haftete. Elijah zu entfliehen war, als stapfte man durch einen Sumpf.
Als sich Darian den beiden Kindern näherte, strahlte sie Herzlichkeit aus. Sie fragte sich, wie die jungen Empathiker ihre Freundlichkeit wohl wahrnehmen mochten. Welche Form und Farbe nahm sie in Elijahs Augen an? War sie grell und blendend oder düster und dunkel? Sanft gerundet oder hart und eckig? Und wie klang sie in Winters Ohren? Wie Glockenläuten? Kreischendes Glas auf Metall?
Vor allem aber hoffte Darian, dass weder die beiden noch Laszlo fühlen konnten, was sie in Wirklichkeit umtrieb – Geldgier. Und außerdem die juckende Angst vor dem, was geschehen würde, falls Laszlo je die Wahrheit erfuhr.
Als sie jedoch Laszlos Gefühle kurz streifte, legte sich ihre Sorge. Da war kein Misstrauen. Nur Vorfreude auf das, was seine Schüler erwartete – und Liebe zu Darian. Als sie zu den Kindern kam, strahlte Darian unbändige Freude und Erleichterung aus.
Und sie lächelte.
Laszlo erwiderte Darians Lächeln, als sie sich einen Stuhl heranzog. Winter setzte sich ihm gegenüber, strich sittsam ihr rosa Röckchen glatt, während sich Elijah
Weitere Kostenlose Bücher