Go West - Reise duch die USA
werden wir zurückfahren. Onkel Ben würde uns zwar mit offenen Armen empfangen. Aber bis L. A. müssten wir fliegen, und was mach ich dann mit meinem Auto? Ihr wisst ja auch noch nicht, wie lange ihr wegbleiben dürft.«
In dieser Nacht bekam ich kein Auge zu. Mir schwirrte der Kopf von alldem, was Liz vorhatte. Sie schien kein bisschen nervös zu sein, solch eine Tour zu unternehmen. Das Reisen hat für Amerikaner ja auch eine andere Dimension, schon der Entfernungen wegen. Wir Deutschen sollen ja Reiseweltmeister sein, aber ich war bisher noch nie allein verreist, nur mal mit Gina auf einem Reiterhof. Und jetzt wollten wir Amerika erobern! Okay, allein würde ich ja diesmal auch nicht reisen. Aber ohne irgendjemanden, der wirklich Erfahrung hatte und uns vor bösen Überraschungen bewahren konnte. Sicher war Liz älter als wir, aber ehrlich gesagt, ein bisschen nervös war ich schon, nachdem sich die erste Euphorie gelegt hatte. Egal, dachte ich und drehte mich zufrieden auf die Seite, das ist einfach toll, und du kriegst nie wieder so eine Gelegenheit! Als ich das letzte Mal auf die im Dunkeln schimmernden Leuchtziffern meiner Uhr schaute, war es 04:45 Uhr.
Um acht klopfte Lisa an die Tür, und als ich vollkommen gerädert meinen Kopf hob, strahlte sie mich an.
»Hey, wach auf! Euer Lehrer hat angerufen. Die Mail eures Vaters ist angekommen. Ihr könnt fahren!«
Wie der Blitz sprang ich aus dem Bett, fiel Lisa um den Hals und flitzte dann zu Gina und Liz, um ihnen die Nachricht zu übermitteln. Dann riefen wir Herrn Lange an und verabschiedeten uns von ihm, ohne natürlich zu vergessen, dass er alle anderen von uns grüßen sollte.
Die würden ziemlich neidisch auf uns sein, aber vielleicht machte der eine oder die andere es uns ja nach. Nur gab es nicht in jeder Familie eine Tochter, die sowieso gerade durchs Land ziehen wollte. Herr Lange und Frau Meyer hatten in Abstimmung mit der Schulleitung beschlossen, dass wir dem Unterricht sechs Wochen fernbleiben durften, vier Wochen länger als unsere Mitschüler.
»Und …«, sagte Herr Lange, und ich konnte ihn förmlich durchs Telefon grinsen sehen, »… ihr schreibt Tagebuch und haltet ein Referat über eure Reise, wenn ihr zurück seid, abgemacht?«
Diese Aufgabe übernahmen wir gern. Doch als wir unserem Lehrer Auf Wiedersehen sagten, durchschnitten wir ein Band, das uns bis hierher unsichtbare Sicherheit geboten hatte.
Jetzt wurde es ernst. Es ging alles so schnell, dass ich später, als wir im Auto saßen und auf dem Weg nach Washington waren, gar nicht begreifen konnte, dass wir jetzt wirklich dabei waren, eine wahnsinnig aufregende Reise anzutreten. Da George und Lisa unseretwegen etwas später zur Arbeit gingen, konnten sie und Trish mit uns frühstücken. Die Taschen standen schon seit dem Abend gepackt an der Tür, und es war kein Akt, sie ins Auto zu verladen. Um halb zehn umarmten wir uns, und da Amerikaner in solchen Momenten gern ein wenig rührselig sind, dauerte es eine Viertelstunde, bis wir uns endlich losreißen konnten.
»Wir sind für euch da«, sagte George zu mir, als er uns ein letztes Mal fest drückte. »Wenn etwas ist, dann ruft an. Wartet nicht, bis es zu spät ist.«
»Danke, Dad«, sagte Liz, die mit den Tränen zu kämpfen hatte. »Das wissen wir. Wir haben genug Geld, wir sind zu dritt, wir werden immer vor Einbruch der Dunkelheit anhalten, und wir rufen euch jede halbe Stunde an!«
»Nein, nein«, meinte Lisa augenzwinkernd. »Jede Stunde reicht.«
Als wir dann losfuhren und der langsam kleiner werdenden Familie von Liz winkten, schienen George und seine Frau beinahe unsicherer als wir. Sie machten sich Sorgen um ihre große Tochter, und vielleicht auch ein bisschen um uns. Aber als wir um die erste Ecke bogen und sie aus unserem Blickfeld verschwanden, schüttelte ich den Gedanken ab.
Jetzt ging’s los!
Ab jetzt wollte ich jede Meile, die wir zurücklegten, in mich aufnehmen. Ich nahm mir vor, alles, was ich in den kommenden Wochen sehen würde, so in meinem Geist zu verankern, dass ich es später immer wieder abrufen konnte.
Wir fuhren zuerst ein gutes Stück westwärts, um auf die Interstate 95 zu gelangen, eine der großen Verbindungen, die wie alle interstates mit ungeraden Ziffern die USA von Nord nach Süd durchziehen. In Amerika Auto zu fahren ist vollkommen anders als in Europa. Es gibt kaum enge Gassen oder verwinkelte Städtchen. Man fährt geradeaus oder mal nach rechts oder nach links. Das
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