Go West - Reise duch die USA
in die Everglades ?«
»Ich.«
Liz machte eine ironische Verbeugung. »Na, dann nach Ihnen!« Liz schulterte den Rucksack mit unserem Proviant und schaute mich erwartungsvoll an.
»Ich geh ja schon«, seufzte ich und sah mich nach allen Seiten um. »Aber wenn mich ein Krokodil frisst …«
»Dann krieg ich deinen Bagel!«, rief Gina fröhlich.
»Na, schönen Dank auch!«, grunzte ich. Dann holte ich Luft und übernahm die Führung. Den Weg kannte ich ja, es war schließlich erst einen Tag her, dass wir ihn gegangen waren.
Doch an diesem Morgen war es anders. Wenn ich das heute beschreiben soll, fällt es mir gar nicht so leicht. Wir hatten Tom nicht dabei. Wir hatten niemanden dabei. Wir waren allein. Mir schossen viele Gedanken durch den Kopf. Was, wenn eine von uns von einer Schlange gebissen wurde? Was, wenn ich im Sumpf versinken und mich die anderen nicht mehr rausziehen konnten? Was, wenn …
»Sandy …«, flüsterte Liz hinter mir plötzlich. »Sieh mal, da!«
Aus meinen Hirngespinsten gerissen blieb ich abrupt stehen. Liz deutete auf einen Baum rechts von uns, und in seinem Wipfel entdeckte ich einen riesigen Vogel.
»Wow!«, entfuhr es mir gedämpft. »Ist der groß! Sieht ja aus wie ein Geier!«
»Ist bestimmt auch einer«, meinte Liz. »Schade, dass Tom nicht hier ist. Er wüsste bestimmt, was für einer das ist.«
Schweigend betrachteten wir das Tier, das sich nicht einen Millimeter vom Fleck rührte. Beinahe schien es, als sei der »Geier« ausgestopft. Aber sicher lag das an der frühen Stunde. Ein vernünftiger Geier steht ja auch nicht um halb fünf auf wie wir.
Langsam tasteten wir uns den Pfad entlang. Die Sonne musste jeden Moment aufgehen, und die Atmosphäre dieses Ortes war unbeschreiblich. Zu Beginn unseres Fußwegs war es noch beinahe totenstill. Nur hier und da hörte man ein leises Plätschern, wenn sich etwas von einem der Bäume löste und ins Wasser fiel. Manchmal waren es auch Fische, die nach Luft schnappten.
Mit einem Mal sah ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung.
»Hey, seht mal!«, zischte ich. »Der Ast da!«
Neben dem Pfad stand das Wasser, durchsetzt von vielen kleinen grasbewachsenen Inseln, von denen man nicht wusste, ob sie begehbar waren oder ob man beim Betreten auf Nimmerwiedersehen verschwinden würde. Ein paar Meter von uns entfernt steckte ein Ast im Wasser. Es schien, als hätte ihn jemand wie einen Stock in den Grund gerammt, denn er stak senkrecht empor. Ich hatte mich nicht getäuscht. Gerade als Gina zu einer Frage ansetzte, bewegte er sich erneut.
»Was ist das?«, flüsterte Liz. »Ein Fisch?«
»Ein Fisch, der Äste zum Frühstück knabbert?« Ich schaute nervös über die Wasseroberfläche. »Ich möchte nicht von einem Alligator verspeist werden.«
»Morgens sind sie noch lahm«, erinnerte uns Liz, sah sich aber genauso nervös um. »Und Alligatoren knabbern nicht an Ästen.«
Wieder rüttelte etwas an dem Ast, der ruckartig hin und her zuckte. Gebannt sahen wir dem Schauspiel zu. Wer oder was mochte sich unter der Wasseroberfläche verbergen? Plötzlich schob sich ein Kopf aus dem Wasser.
»Eine Schildkröte!«
Wenn sie uns denn bemerkte, schien sie jedenfalls durch unsere Anwesenheit nicht beunruhigt zu sein. Was sie offensichtlich bereits unter Wasser getan hatte, nämlich die Rinde von dem Ast zu zupfen, setzte sie nun über Wasser fort. Jetzt wussten wir, warum der Stock gezuckt hatte.
»Sie wirken so weise«, flüsterte Liz.
»Ich find sie eher alt und runzlig«, murmelte ich.
»Das gehört oft zusammen!« Gina lachte. Ein paar Minuten schauten wir dem urzeitlich aussehenden Tier zu, wie es den Ast von der Rinde befreite. Ich ärgerte mich, denn niemand von uns hatte daran gedacht, einen Fotoapparat mitzunehmen.
Behutsam gingen wir weiter. Die Sonne musste inzwischen aufgegangen sein, denn es wurde zwischen den Bäumen merklich heller. Der über den glades liegende Nebel begann sich aufzulösen und trieb in Fetzen dahin. Die Vögel, die auf ihren Schlafbäumen hockten, erwachten, und es erschollen immer mehr Stimmen. Noch nie hatte ich so viele verschiedene Vögel auf einmal gesehen, vor allem nicht so viele Greifvögel.
»Seht mal, da!«, raunte Gina. Ich folgte ihrem ausgestreckten Arm und hielt den Atem an. Ein riesiger Adler saß auf einem knorrigen Ast und beäugte uns misstrauisch. Er hatte braunes und um den Kopf herum weißes Gefieder. Voller Stolz, Kraft und sichtlicher Überlegenheit blickte dieses schöne Tier auf uns
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