Go West - Reise duch die USA
kurz bevor das Grasschwemmland wieder in dichtere Vegetation mit Büschen und Bäumen überging, nahm ich am Wegrand eine Bewegung wahr. Ich blieb stehen.
»Was ist denn?«, kam es von Liz. »Wieder eine Schlange?«
»Nein«, sagte ich unsicher. »Das war keine Schlange. Es war klein. Vielleicht eine Eidechse.«
Neugierig traten Gina und Liz neben mich. »Wo denn?«
Ich sah mich nach etwas um, womit ich das Gras beiseiteschieben konnte, nahm mir einen morschen Stock und drückte das Gras vorsichtig auseinander. Was ich erblickte, konnte ich kaum glauben.
»Seht doch!«, flüsterte ich. »Krokodilbabys!«
Es war nicht zu glauben, aber ich hatte ein Nest freigelegt! Acht bis zehn Mini-Alligatoren krabbelten übereinander. Manche hatten das Maul geöffnet und schienen starr dazuliegen, andere krochen über sie drüber, und wieder andere machten ungelenke Versuche, das Nest zu verlassen. Das Nest war etwa so groß wie ein Wagenrad und erinnerte mich ein wenig an das von Störchen, nur dass dieses hier auf dem Boden und nicht auf einem Dach angelegt worden war.
»Sind die süß!«, entfuhr es Gina. Und das waren sie auch. Sie maßen vielleicht fünfzehn bis zwanzig Zentimeter, und obwohl sie in jeder Hinsicht Alligatoren waren und im Grunde nichts Süßes an sich hatten, war es allein ihre Größe, die sie irgendwie niedlich machte. Am liebsten hätte ich mir eines gegriffen und in die Hand genommen.
»Sie wärmen sich noch auf«, meinte Liz und ging in die Hocke. »Was fressen die eigentlich, wenn sie so klein sind?«
»Keine Ahnung«, gab ich zu. »Fliegen, Frösche, Käfer … wahrscheinlich gibt ihnen ihre Mutter was zu fressen.«
In dem Moment, als ich das sagte, wurde mir heiß.
»Die Mutter!«, schrie Liz. »Weg hier!«
Gleichzeitig mit Liz’ Schrei vernahm ich ein wütendes Fauchen, von dem mir alle Haare zu Berge standen. Alles spielte sich innerhalb einer Sekunde ab. Während Liz aufsprang und ich zurückwich, kräuselte sich das Wasser hinter dem hohen Gras, und ein Schwanz peitschte es auf. Wie der Blitz schoss ein etwa drei Meter großer Alligator aus dem Wasser!
»Laauuft!«
Wir hatten keine Zeit zum Nachdenken. Aufspringen und losrennen. Das war das Einzige, was wir tun konnten. Die Geräusche, die das Urzeitmonster von sich gab, werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Der Alligator fauchte und krächzte, schleuderte den Schwanz hin und her, und nur, weil er eine kleine Böschung überwinden musste, kriegte er uns nicht zu fassen. Panisch rannten wir den Pfad zurück, bis wir unser Auto erreicht hatten. Hastig und vollkommen durcheinander fummelte Liz den Schlüssel hervor, und es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe die Fernbedienung reagierte. Wir waren so schnell im Auto wie noch nie in unserem Leben und warfen die Türen hinter uns zu. Schwer atmend starrten wir auf den Pfad, ob uns der Alligator noch folgte.
»Das war die Mutter«, krächzte Liz. »Mann, war das knapp! Um ein Haar hätten wir morgen in der Zeitung gestanden.«
Ich versuchte wieder ruhiger zu atmen. »Ich bin so blöd!«, schimpfte ich. »Das weiß doch jeder, dass man keine Krokodilbabys angucken darf.«
Gina ließ die Luft raus. »Das haben wir alle gewusst, und niemand hat dran gedacht.«
»Oh Mann, oh Mann, oh Mann«, wiederholte Liz immer wieder. »Wenn Tom das rauskriegt … der bringt uns um!«
»Nicht, wenn wir die Krokodilmama überlebt haben.« Ich grinste und löste damit unsere Anspannung etwas. »Das behalten wir für uns, okay?«
»Okay.«
»Okay.«
Es war abgemacht. Wir wollten nicht, dass jemand erfuhr, wie naiv und blauäugig wir mit den Alligatoren umgegangen waren. Wir hatten unglaubliches Glück gehabt. Vielleicht war ich nur nicht von dem wütenden Tier erwischt worden, weil es noch recht früh am Morgen gewesen war und die Alligatormama ihre Angriffstemperatur noch nicht erreicht hatte.
»Aber cool war’s doch, oder?«, fragte Liz.
» Y es! «, kam es von uns beiden wie aus einem Mund. Gina wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Das können wir noch unseren Enkeln erzählen!«
Wir hatten immer noch enorm viel Adrenalin im Körper, als Liz den Motor anließ und den Wagen langsam wieder aus der unbefestigten Straße manövrierte. Zurück in Homestead suchten wir uns einen schönen coffee shop und frühstückten ein zweites Mal an diesem Morgen. Dieses Mal in Ruhe und ohne nervös in alle Richtungen zu schauen. Um die Anspannung abzubauen, redeten wir uns die Seele aus dem Leib und
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