Go West - Reise duch die USA
herab.
»Ein bald eagle «, flüsterte Liz. »Unser Nationalvogel. Was für ein Glück! Ich hab noch nie einen gesehen, außer auf Briefmarken.«
Überglücklich, das erste Mal einen Weißkopfseeadler zu Gesicht zu bekommen, standen wir regungslos da und beobachteten ihn. Ab und zu drehte er seinen Kopf, und wir sahen den spitzen, kräftigen Schnabel. Eigentlich hat man ja keine Angst vor Vögeln, aber mit diesen Krallen und dem scharfen Schnabel wollte ich keine Bekanntschaft machen. Ein erster Sonnenstrahl traf den Ast, auf dem er saß. Wohlig die Wärme genießend spreizte er seine Flügel, und dieser Anblick war überwältigend. Minutenlang genossen wir schweigend dieses Schauspiel. Dann schien der bald eagle genug davon zu haben, angestarrt zu werden. Ohne Vorankündigung schlug er ein paarmal mit den Flügeln, dann hob er ab und flog mit kraftvollen Flügelschlägen davon.
»Er will sicher zum coffee shop «, sagte Liz grinsend.
»Eggs sunny-side up and white toast with fish!« , fügte ich hinzu. Langsam bekam ich selbst Hunger. »Wollen wir auch frühstücken?«
»Hier?«, fragte Gina unsicher. Der Pfad war an dieser Stelle nicht viel breiter als einen Meter. Hinsetzen wollte ich mich hier auch nicht.
»Nein, lasst uns doch weitergehen bis zu … wie hieß das noch auf Indianisch … Pa-hay-okee ?«
»Grasiges Wasser.« Liz nickte. »Stimmt. Da haben wir mehr Platz. Und außerdem können wir besser sehen, wenn sich was an uns ranschleicht.«
Ich blickte misstrauisch zur Sonne, deren Strahlen sich anschickten, das Dickicht zu durchdringen. »Wir sollten uns beeilen«, drängte ich. »Lange dauert es nicht mehr, bis sich die Alligatoren und die Schlangen aufgewärmt haben.«
»Ja, zur Frühstückszeit!« Liz zwinkerte mir zu. » Eggs sunny-side up and white girls with fish!«
Lachend setzten wir unseren Weg fort, aber ein wenig mulmig war mir schon. Schließlich war der Alligator, den wir am Vortag gemeinsam mit Tom gesehen hatten, genau an der Stelle rumgepaddelt, an der wir gleich picknicken wollten. Eine unvergleichliche Spannung stieg in mir auf, als wir aus dem Dickicht traten und das weite Grasschwemmland sich vor uns erstreckte. Unzählige Tierstimmen erwarteten uns. Kreischen, Zirpen, ein abgehacktes Keckern, tiefe und hohe Laute und immer wieder welche, die wir beim besten Willen nicht zuordnen konnten. Sorgfältig prüften wir die Umgebung mit Blicken, ob irgendwo ein gepanzerter Rücken oder ein sich schlängelnder Ast zu entdecken war, sahen aber nichts dergleichen.
»Da vorne ist gut«, meinte Gina und ging voraus. Offensichtlich waren Tom und seine Kollegen hier schon oft langgegangen, denn nicht nur der Pfad war festgetreten, sondern auch die Stelle, an der er endete.
»Bestimmt hat Tom von hier aus die glades beobachtet«, sagte Liz überzeugt, als sie sich im Schneidersitz auf den Boden setzte. »Auf jeden Fall wurde das hier nicht von Tieren festgetrampelt.«
»Wahrscheinlich hat er Kollegen mitgenommen«, sagte Gina. Meine Schwester und ich ließen uns neben unserer Freundin nieder, packten die mitgebrachten Bagels aus und genossen einen unvergleichlichen Moment. Ich wette mit euch, der beste Bagel der Welt schmeckt zu Hause nicht mehr so gut wie in der Fremde. Und wenn man ihn dann noch inmitten einer Landschaft wie aus längst vergangenen Zeiten genießt, dann ist das Erlebnis unvergleichlich.
Es sei denn, jemand kommt vorbei, den ihr zum Frühstück nicht eingeladen habt …
Die Stimmung an diesem Morgen war traumhaft. Wir saßen auf einem Stück festgetretenem Grasland bei dreißig Grad Celsius und gefühlten hundert Prozent Luftfeuchtigkeit, um uns herum fremde Tierlaute, jedes Rascheln und Knacken ließ uns nervös herumfahren, und wir wussten, dass dies ein unwiederbringlicher Moment ist. Die latente Spannung, die man in der Wildnis fühlt, der ungeheure Reiz der Unerfahrenheit und das Bewusstsein, dass man dabei ist, etwas zu tun, das man eigentlich nicht machen sollte, brennt sich förmlich in das Gedächtnis ein.
Ich leckte gerade den letzten klebrigen Zuckerguss von meinen Fingern, als ich sah, wie hinter Gina einige Grashalme am Wegrand unnatürlich hin und her schwankten. Ich hielt mitten im Kauen inne.
Liz schaute mich fragend an. »Was ist denn?«
Im selben Moment teilten sich die Halme, und ein dreieckig geformter Kopf samt einer hin und her zischenden Zunge kam hervor. Ich verschluckte mich am letzten Krümel meines Bagels.
»Ei… ei… eine
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