Gods and Warriors - Die Insel der Heiligen Toten: Band 1 (German Edition)
Position. Hylas duckte sich. Der Pfeil schlug in die Bootswand ein und blieb mit bebendem Schaft stecken.
Er ruderte, bis er seine Arme nicht mehr spürte. Du Dummkopf , schimpfte er mit sich selbst. Es gab einen einfachen Grund, warum die Keftiu die Krähen nicht fürchteten. Sie waren Verbündete!
Während er eine dunkle Landzunge umruderte, geriet er plötzlich in eine kräftige Strömung, die sein Boot ins offene Meer hinauszog. Kurz darauf glitt er auch schon in eine weiße Nebelwand hinein, und die Schreie der Krähen waren mit einem Mal nur noch gedämpft zu vernehmen. Das Meer war auf seiner Seite!
Die Hoffnung verlieh Hylas neue Kräfte, und er ruderte in den Nebel hinein.
Lauschend hielt er inne.
Alles war still, bis auf die Wellen, die gegen sein Boot schwappten, das Rauschen der Strömung und seinen eigenen, abgerissenen Atem.
Danke, sagte er zu dem wohlmeinenden Geist, der ihm vielleicht zuhören mochte.
Hylas ruderte, bis er vollkommen erschöpft war. Mit letzter Kraft holte er die Ruder ein und rollte sich auf dem Boden zusammen. Nebel tropfte perlend von seiner Tunika und benetzte seine Haut. Das Meer schaukelte ihn sanft an seinem salzigen, seufzenden Busen …
Hylas weiß, dass er träumt, und ist wütend auf das verrückte Mädchen der Keftiu, das sich in seinen Traum eingeschlichen hat. Es steht am Strand, schwenkt einen brennenden Zweig und ruft ihm etwas Niederträchtiges zu.
Wo ist meine Schwester?, ruft er fragend zurück.
Verschwunden!, erwidert sie höhnisch. Er kann sie verstehen, obwohl sie Keftiu spricht. Du hast den falschen Weg eingeschlagen und wirst sie nie mehr wiederfinden!
Ihre Arme werden länger, so lang, bis sie mit dem glühenden Zweig sein Boot berührt und ein Loch in die Wand brennt. Wasser schäumt gurgelnd herein. Das verrückte Mädchen bricht in heulendes Gelächter aus: Das Meervolk hat Issi – und jetzt kriegen sie dich auch!
Hylas fuhr aus dem Schlaf.
Der Nebel hatte sich gelichtet und es wurde allmählich hell. Das Meer wiegte ihn sanft.
Erschöpft blickte er sich um. Im Osten erwachte die Sonne und goss dunkles Morgenrot über den Himmel. Im Westen …
Im Westen war kein Land zu sehen.
In panischem Entsetzen blickte er sich um.
Nirgendwo war Land in Sicht.
Ringsum nichts als Meer.
I n der Nacht klang das Meer anders. Pirra kam es vor, als wollte es ihren fehlgeschlagenen Fluchtversuch verspotten. Sie hatte geglaubt, sie könne ihre Heirat verhindern, indem sie ihr Gesicht durch eine Brandnarbe entstellte. Sie hatte sich getäuscht.
Die Wunde schmerzte höllisch. Immer wieder dachte sie an den Augenblick, als sie den brennenden Zweig an ihre Wange gehalten hatte. Der Geruch nach verbrannter Haut, der wilde Junge, der sie anstarrte.
Aber alles war umsonst gewesen.
Userref kniete am Eingang ihres Zeltes und hielt ihr einen Streifen feinsten Leinens und eine mit einer grünlichen Paste gefüllte Alabasterschale entgegen. Auf seinem Umhang glitzerten Tauperlen, dunkle Haarstoppel sprenkelten seinen unrasierten Schädel und das Kinn. Sein hübsches Gesicht wirkte feindselig. Für Ägypter war Schönheit ein Geschenk der Götter. Dass sie sich entstellt hatte, glich in seinen Augen einer Gotteslästerung.
»Was ist in der Schale?«, fragte sie.
»Eine Heilsalbe, Auserwählte.«
Auserwählte. So nannte er sie nur, wenn er wütend war.
Wortlos reichte er ihr die Schale, und sie tauchte den Finger in die Paste und betupfte vorsichtig die Wunde. Der Schmerz war brennend, aber sie verzog keine Miene.
»Du machst es verkehrt«, murmelte er. Er nahm die Schale, tränkte einen Leinenstreifen und legte ihr den feuchten Umschlag auf die Wunde. Pirra presste die Zähne so fest aufeinander, dass es schmerzte.
Userrefs Miene verfinsterte sich. »Du wirst eine Narbe zurückbehalten.«
»Das war meine Absicht«, erwiderte sie.
»Warum? Wieso hast du das getan?«
»Ich habe gedacht, niemand will ein Mädchen mit einer Narbe. Ich dachte, sie schicken mich zurück, und ich könnte währenddessen fliehen.«
»Ha! Habe ich dir nicht oft genug gesagt, dass es kein Entkommen vor deiner Mutter gibt? Du kannst sie nicht besiegen.«
Sie gab keine Antwort.
Ihre Mutter hatte sich ungerührt gezeigt. Sie hatte nur das Gesicht ihrer Tochter betrachtet und abschließend gesagt: »Du weißt, dass sich dadurch nichts ändert.«
»Da wäre ich nicht so sicher«, hatte Pirra erwidert. »Die Lykonier werden einen Blick auf die Narbe werfen und mich
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