Gods and Warriors - Die Insel der Heiligen Toten: Band 1 (German Edition)
Vogelruf, kee-juck, kee-juck.
Pirra kannte den Ruf. Userref konnte Vogelrufe gut nachahmen und als sie ihn einmal gefragt hatte, wie sich ein Falke anhörte, hatte er genau denselben Ruf ausgestoßen.
Plötzlich begriff sie. Der Ruf des Falken war für sie bestimmt. Er wollte ihr damit sagen, dass dies ihre Chance war.
Pirra ließ einen Armreif von ihrem Gelenk gleiten und hielt ihn dem Fischer entgegen. Dann deutete sie unmissverständlich aufs Meer.
T elamon schritt schneller aus, während hoch oben ein Falke kreiste. Der Vogel war aus südlicher Richtung gekommen, was hoffentlich bedeutete, dass Hylas das Meer erreicht hatte.
Die Schläge vom Vortag schmerzten noch empfindlich, der Vorratsbeutel scheuerte die frisch verkrusteten Wunden auf. In seinem Kopf drehte sich alles. Nach den Schlägen hatte sein Vater bis spät in die Nacht mit ihm gesprochen.
»Es wird Zeit, dass du weißt, was auf dich zukommt«, hatte er grimmig erklärt. Damit meinte er, dass Telamon ein Mädchen der Keftiu heiraten und sich der Bürde seines zukünftigen Amtes stellen sollte. Thestos hatte ausführlich über die Pflichten eines Stammesfürsten gesprochen und erklärt, warum er versucht hatte, Lykonien aus allem herauszuhalten, was in Achäa vor sich ging. Nach dem Gespräch hatte Telamon lange keinen Schlaf gefunden und das Gefühl gehabt, in einem Albtraum gefangen zu sein, aus dem er nicht erwachen konnte. Schließlich hatte er es einfach nicht mehr ertragen und war heimlich davongeschlichen. Er wollte lieber nicht daran denken, welches Gesicht sein Vater am Morgen machen würde, wenn er von der Flucht seines Sohnes erfuhr.
Telamon hatte den Pfad eingeschlagen, der direkt in die Berge führte, und den Pass bereits am Mittag erreicht. Er lief zu dem Felsen, wo er, Hylas und Issi sich manchmal Botschaften hinterließen. In einer Felsmulde lag ein Kiesel, und daneben hatte jemand mit Holzkohle ein Zeichen gemalt: einen hüpfenden Frosch. Telamon kaute nachdenklich auf den Lippen. Hatte Issi dieses Zeichen für Hylas hinterlassen, um ihm zu sagen, dass sie noch am Leben war? Oder hatte Hylas seiner Schwester das Zeichen hinterlassen? Oder hatte es einer der beiden für ihn hinterlassen, um ihm etwas mitzuteilen? Aber was nur?
Hastig suchte er den Boden nach Spuren ab, wohlwissend, dass er das zuerst hätte tun müssen, statt darüber hinwegzutrampeln. Ein derartiger Fehler wäre Hylas niemals unterlaufen. Sein Freund war ein ausgezeichneter Fährtenleser, der vermutlich sogar Geister auf glattem Felsgestein verfolgen konnte.
Telamon hatte sich vom ersten Augenblick an gewünscht, Hylas’ Freund zu sein. Vor vier Wintern war er mit seinem Vater auf die Jagd gegangen. In der Nähe des Dorfes waren sie auf ein paar Jungen getroffen, die Steine auf ein kleines Mädchen in einem verschmutzten Dachsfellumhang warfen. Die Kleine schwenkte tapfer einen Stock, obwohl die Angreifer doppelt so groß waren wie sie selbst. Plötzlich war ein verwahrlost aussehender Junge aus dem Wald getreten. Er hatte ein Hasenfell und vor Schmutz starrende Lederstiefel getragen.
Er hatte die Kleine am Gürtel gepackt und zu den Rüpeln gewandt gedroht: »Wenn ihr sie noch einmal anrührt, brech’ ich euch sämtliche Knochen!« Sie hatten höhnisch gejohlt, aber er hatte sie einfach nur finster angestarrt, bis sie verstanden hatten, dass er es ernst meinte. Dann hatten sie sich eingeschüchtert verzogen.
Telamon hatte den Jungen bewundert. Diese Dorfjungen hatten sofort gespürt, wie bitterernst es ihm war. Ihn selbst, fürchtete Telamon, hätten die Jungen eher angegriffen und er hätte den Kampf verloren.
An ihrem geheimen Treffpunkt entdeckte er mehrere Fußspuren von Issi und nur einen Fußabdruck ihres Bruders. In der Nacht hatte ein Sturm gewütet, vermutlich war Hylas’ Abdruck also alt und nur Issi war nach dem Sturm hier entlanggekommen.
Ihre Spur führte nach Westen, hinab in die Sumpfgebiete von Messenien, die Telamon in der Ferne erkennen konnte. Dahinter lag das blaugraue Meer im Morgendunst. Vielleicht gelang es ihm, Issi einzuholen und gemeinsam Hylas zu finden, der sie ebenfalls suchte. Was für ein Wiedersehen …
Erst als er sich nach Westen wandte, sah er plötzlich die Alte, die unter einer Pinie kauerte.
Sie saß in der Hocke und schaukelte auf den Fersen vor und zurück, was ihren eindrucksvollen Leib heftig schwabbeln ließ. Telamon kannte sie. Jeder wusste, wer die Alte war. Er war sofort auf der Hut.
Er hätte sich denken
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