Gods and Warriors - Die Insel der Heiligen Toten: Band 1 (German Edition)
Telamons Vater verstörend ähnlich. In dem finsteren Gesicht seines Onkels war jedoch keine Spur von Freundlichkeit.
Er ist dein Verwandter, ermahnte sich Telamon. Du darfst ihn nicht belügen.
Aber er brachte es einfach nicht über sich. Wie sollte er einem Mann gegenüber aufrichtig sein, der seinen besten Freund töten wollte?
»Das Mädchen finden wir auch«, sagte Kratos und musterte ihn unverwandt.
»Was?«
»Die kleine Keftiu, die Tochter der Hohepriesterin.« Er verzog den Mund. »Die du zur Frau nehmen sollst.«
»Ah, ja. Der Fischer hat behauptet, dass er sie hierhergebracht hat. Vermutlich sagt er die Wahrheit.«
»Er wird mich wohl kaum belogen haben«, entgegnete Kratos mit Nachdruck.
Telamon schluckte erneut. Niemand wagte es, Kratos zu belügen. Abgesehen von seinem eigenen Neffen.
Bisher hatte Telamon Glück gehabt. Kratos und sein Vater hatten nicht viel füreinander übrig, und Thestor hatte daher seinem Bruder verschwiegen, dass der Fremdling Telamons Freund war und sein Sohn ihm bei der Flucht geholfen hatte.
Trotzdem fragte sich Telamon, ob Familienbande ihn schützen würden, wenn Kratos hinter die Wahrheit kam. Ein Blick auf den grausamen Mund seines Onkels sagte ihm, dass er nicht auf Nachsicht hoffen durfte.
»Ich sehe mich mit ein paar Männern vor der Dämmerung an der Küste um. Wir gehen Richtung Süden«, sagte Kratos jetzt. »Kommst du mit?«
Telamon befeuchtete nervös seine Lippen. »Nein, ich bleibe hier, für den Fall, dass der Delfin zurückkommt.«
Er erwiderte den Blick seines Onkels. Hoffentlich bemerkte der die Lüge nicht.
»Ganz wie du möchtest«, erwiderte Kratos. Obwohl er immer noch lächelte, hörte Telamon an seinem Tonfall, dass er die falsche Entscheidung getroffen hatte.
Kaum war sein Onkel außer Sicht, stapfte Telamon nach Norden davon. Viel Zeit blieb ihm nicht, denn er wollte wieder im Lager sein, ehe es dunkel wurde und Kratos von seiner Erkundung zurückkehrte. Er wurde die Vermutung nicht los, dass der Delfin ihm den Weg gezeigt hatte. Selbst wenn er sich täuschen sollte, war es allemal besser, als tatenlos am Strand zu sitzen, während die anderen seinen Freund jagten.
Als er in der stickigen Hitze die Landzunge überquert hatte, war er schweißüberströmt. Die Böschung war dicht mit Bergahorn bestanden. Ein Versteck ganz nach Hylas’ Geschmack.
Etwas zuversichtlicher machte sich Telamon an den Abstieg. Unter den Bäumen hatte sich die Hitze gestaut, und das Sirren der Zikaden verursachte ihm Kopfschmerzen. »Hylas?«, flüsterte er. »Bist du hier?«
Nur die Zikaden antworteten ihm.
Nach einer Weile versuchte er es erneut. »Hylas, ich bin es! Ich bin allein, ich will dir helfen.«
Stille.
Er zwängte sich durch einen stacheligen Ginsterbusch und stand plötzlich auf einer kleinen Lichtung. Blasse Motten flatterten zwischen mannshohen Disteln.
Telamon entdeckte einen Fußabdruck und studierte ihn aufmerksam. Stammte das wirklich von einem Fuß oder war es bloß ein weggerollter Stein? Hylas hätte es auf den ersten Blick sagen können.
Der Gedanke machte ihn traurig. Er vermisste seinen Freund und musste daran denken, wie oft er sich aus Lapithos weggeschlichen und Hylas oben in den Bergen aufgesucht hatte. Er war den Pfad hinaufgeklettert und hatte ihren Treffpunkt, einen Felsen, nach Zeichen abgesucht, bis er Hylas lachen hörte. Dann sprang sein Freund hinter einem Busch hervor und sie hatten sich in aller Freundschaft im Gebüsch gebalgt und miteinander gekämpft …
Telamon begriff plötzlich, dass es nie wieder so werden würde, selbst wenn er Hylas finden sollte. Bestenfalls konnte er darauf hoffen, Hylas bei der Flucht in ein weit entferntes Land zu helfen. Er würde ihn schwören lassen, keinen Fuß mehr nach Lykonien zu setzen. Sie mussten endgültig Abschied voneinander nehmen.
Er kam zu dem Schluss, dass die Spur doch kein Fußabdruck war. Sie sah irgendwie verkehrt aus, und er zerstampfte sie ärgerlich. Was hatte er hier verloren, warum stolperte er eigentlich in diesem Gestrüpp herum?
Da schlang sich ein Arm um seinen Hals und riss ihn rücklings zu Boden.
W arum?«, fragte Hylas und drückte den Splitter aus Feuerstein an Telamons Hals. »Sag mir einfach nur, warum!«
»Warum was?«, keuchte Telamon.
»Warum hast du mich belogen?«
»Ich habe dich nicht belogen. Ich habe dich gerettet!«
»Du hast mir nie gesagt, dass du zu den Krähen gehörst!«
»Ich habe dich gerettet! Ich habe den Wagen meines Vaters
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