Godspeed | Die Ankunft
Junior. Trotzdem zögere ich. Untergrabe ich Juniors Autorität, wenn ich meinem Vater erzähle, was ich weiß?
Nein. Mein Vater muss die Wahrheit über Orion erfahren, und ich bin sicher, dass Junior es nicht über sich bringen würde, Orions Fehler einzugestehen. Dad kann keine Ausreden brauchen – er muss genau wissen, wie gefährlich Orion ist.
Also erkläre ich, so gut ich kann, wer Orion ist und wieso er gedacht hat, dass die Ermordung der Militärangehörigen sein eigenes Volk retten würde. Ich verschweige ihm jedoch Juniors Plan, Dad und die anderen Aufgetauten über Orion urteilen zu lassen. Ich stelle es so dar, als wäre das Eingefrorensein Orions Strafe – ich will nicht, dass er aufgetaut wird, nicht einmal, um verurteilt zu werden. Ich will, dass er die nächsten Jahrhunderte im Eis verbringen muss, genau wie ich es musste.
Dad streckt die Hand aus und streicht mir eine meiner roten Locken hinters Ohr. »Du hast so viel durchgemacht«, sagt er, und vor lauter Bedauern versagt ihm die Stimme.
Unbewusst berühre ich mit der anderen Hand mein linkes Handgelenk und reibe es dort, wo ich vor drei Monaten die blauen Flecken hatte, nachdem mich ein Mann zu Boden gedrückt hat, der durch und durch böse war.
Dad legt den Arm um mich. »Die Schiffsgeborenen«, beginnt er sanft, »sie sind ganz anders, als ich erwartet habe.«
»Sie sind auch anders, als ich es erwartet habe.«
»Alles, was mir dabei hilft, sie besser zu verstehen …«
Ich lasse mein Handgelenk los und verschlucke die Bemerkung, die mir auf der Zunge liegt.
Dad beginnt, auf und ab zu gehen – eine Angewohnheit, die ich von ihm übernommen habe. »Diese Leute«, sagt er, »sie sehen alle gleich aus, sie haben ein Kind als Anführer, und es sind viel weniger von ihnen geboren worden, als wir es nach all dieser Zeit angenommen haben.« Er erinnert mich an ein Tier im Käfig, das an der Wand kehrtmacht und dieselbe Strecke zurückläuft. »Und wenn die Aufzeichnungen der Sonde stimmen, hat die Reise hierher keine dreihundert Jahre gedauert. Wie es scheint, ist fast ein halbes Jahrtausend vergangen.«
So lange hat die
Godspeed
den Planeten also unter der Tyrannei des Ältestensystems umkreist: zusätzliche zweihundert Jahre. Sechs, vielleicht auch sieben oder acht Älteste?
Und ein Junior, der rebelliert hat.
»Was ist in diesen fünf Jahrhunderten geschehen?«, fährt Dad fort, aber er redet eher mit sich selbst als mit mir. »Was haben diese Leute sich angetan? Offenbar eine Art genetischer Modifikation. Aber auch ihr Sozialgefüge hat sich im Laufe der Zeit verändert …«
»Sie haben sich mit Genmanipulation beschäftigt«, sage ich. Dad ist sofort wieder aufmerksam und hört mir gebannt zu. »Ich meine, dass sie etwas verändert haben, um sich monoethnisch zu machen, ist offensichtlich, aber ich weiß auch, dass die Babys schon vor der Geburt etwas gespritzt bekommen, das ihre Gene verändert.« Dad sagt nichts, aber dass er so fasziniert zuhört, macht mich ein bisschen nervös, und ich fange an, hektisch zu plappern. »Mir haben sie gesagt, dass es dazu dient, Konflikte zu vermeiden. Sie haben die Rasse als Streitthema ausgemerzt und auch die Religion und alles andere, das zu Unfrieden führen könnte.«
Dad betrachtet mich nachdenklich. »Du klingst wie einer von denen«, sagt er schließlich.
»Wie bitte?«
»
Wie bitte.
Hör dir doch an, wie du das gerade gesagt hast«, bemerkt er, wirft mir die Worte beinahe anklagend an den Kopf. »Du sprichst mit einem Akzent.«
»Tu ich nicht!«
Er sieht mich unverwandt an. »Doch, tust du.«
Ich verziehe mürrisch das Gesicht. Was macht das schon? Vielleicht klinge ich wirklich wie sie. Wen stört’s?
»Was kannst du mir sonst noch sagen?« Dad starrt mich an. »Was hast du noch erfahren?«
Ich habe erfahren, wie zerbrechlich das Leben ist. Ich habe erfahren, dass man einen Menschen nur wenige Tage kennen muss, um ihn niemals wieder zu vergessen. Ich habe erfahren, dass Kunst gleichzeitig wunderschön und traurig sein kann. Ich habe erfahren, dass jemand, der einen liebt, bereit ist, so lange zu warten, bis man seine Liebe erwidert. Ich habe erfahren, dass etwas nicht schneller passiert, nur weil man es sich sehnlich wünscht; dass »Nein« manchmal nicht ausreicht; dass das Leben nicht fair ist; dass meine Eltern mich nicht retten können und dass es vielleicht niemand kann.
»Nicht viel«, murmele ich.
»Komm schon.« Dad sieht mich erwartungsvoll an. »Jedes Detail,
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