Godspeed | Die Ankunft
Wald.
»Tut es noch weh?«, frage ich.
Junior lässt die Hand sinken. »Nicht sehr«, murmelt er, doch seine ganze Aufmerksamkeit gilt den Bäumen.
»Wonach suchst du?«
Junior schüttelt den Kopf, doch sein Blick wandert durch das Gestrüpp am Waldboden. »Als ich angegriffen wurde …«, beginnt er langsam, »dachte ich, ich hätte gehört …«
Er beugt sich vor und starrt auf den Boden. Die Schatten der Bäume und das schwindende Licht erschweren es ihm, etwas zu erkennen. Er geht ein paar Schritte vor. »Siehst du das?«, fragt er fast flüsternd.
Ich hocke mich neben Junior. Am Fuß eines Baums entdecke ich etwas, das vermutlich die Spur eines Tiers ist, auch wenn sie ganz anders aussieht als alle Tierspuren, die ich kenne. Die meisten Abdrücke überlagern sich – was es auch gewesen sein mag, es muss öfter hin- und hergelaufen sein. Aber dicht am Baum ist ein perfekter Abdruck, der sich knapp einen Zentimeter tief in den weichen Boden gegraben hat und klar und deutlich zu sehen ist: drei Zehen mit gezackten Rändern über einem mit Linien durchzogenen Oval.
Junior hält die Hand über den Abdruck. Die hintere Hälfte hat etwa die Größe seiner Handfläche; die langen Zehen – oder Krallen – sind ein paar Zentimeter länger als seine Finger.
Was für eine Kreatur hinterlässt solche Abdrücke? Das Vogelmonster hat gebogene Krallen, aber die schuppigen Klauen dieses Tiers scheinen so scharfkantig zu sein, dass sie mein Fleisch schon zerfetzen könnten, wenn es mich nur leicht berührt.
»Wir sollten diesen Wissenschaftler auch davon einen Gipsabdruck nehmen lassen«, sage ich und richte mich auf.
Als auch Junior wieder aufsteht, ruft eine tiefe Stimme: »Ihr müsst bei der Gruppe bleiben.« Ein junger Mann im Kampfanzug kommt aus dem Wald – und tritt genau auf den Fußabdruck, den Junior gerade untersucht hat. Junior knurrt gereizt, aber das scheint den Mann nicht zu stören.
Er ist jung, sicher nicht viel älter als ich. Höchstens Anfang zwanzig. Er hat unglaublich blaue Augen, die nicht recht zu seinen dunklen Haaren passen. Der Soldat trägt einen gewöhnlichen Kampfanzug ohne Namensschild oder Rangabzeichen. Ich erinnere mich vage, dass er einer der Männer war, die mein Vater auf die Suche nach der Sonde mitgenommen hat. Als er merkt, wie ich ihn anstarre, lächelt er mir kurz zu und sieht dann zum Shuttle hinüber, um Dad, der uns beobachtet, ein Zeichen zu geben, dass alles in Ordnung ist. Ich werde rot – wie peinlich. Doch bevor ich fragen kann, wer er ist, mischt sich Dad ein.
»Zurück auf Ihren Posten!«, befiehlt er lautstark von der Brücke des Shuttles. Der Soldat macht sofort kehrt und nimmt seine Patrouille wieder auf.
Junior wirft einen verstohlenen Blick auf meinen Vater und zieht mich hinter sich her zum Shuttle. Ich zupfe an seinem Arm und wir verschwinden auf der anderen Seite. Auch hier sind Soldaten, aber wenigstens sind wir jetzt nicht mehr dem wachsamen Blick meines Vaters ausgesetzt.
Erst jetzt bemerke ich die Sonnen. Zwei Sonnen. Keine Ahnung, wieso sie mir nicht gleich aufgefallen sind – wer kommt schon auf die Idee, in die Sonne zu sehen? –, aber inzwischen stehen sie tief am Himmel und tauchen die Landschaft in ein blaugrünes Zwielicht.
Zwei Sonnen.
Zwei.
Natürlich habe ich gewusst – habe es immer gewusst –, dass die Zentauri-Erde zwei Sonnen haben würde. Ich habe die zwei glühenden Kugeln sogar aus dem Fenster des Shuttles gesehen. Aber es ist ein Unterschied, ob man zwei große Sterne von einem Raumschiff aus betrachtet oder ob man vom Boden aus zu zwei glühenden, untergehenden Sonnen schaut.
»Das ist so … unglaublich schön«, sage ich überwältigt. Juniors Finger schließen sich fester um meine Hand.
Ich drehe mich zu ihm um und sehe, wie sich mein atemloses Staunen in seinem Gesicht spiegelt. Meine Mundwinkel wandern nach oben, und ich habe das Gefühl, als würde ich nie wieder aufhören zu lächeln. Juniors Hand löst sich aus meiner und wandert meinen Arm hinauf, was mir eine wohlige Gänsehaut verursacht.
Ich beuge mich vor und stelle mich auf die Zehenspitzen und der warme Wind aus dem Wald scheint mich förmlich in Juniors Arme zu schieben. Unser Kuss hat nichts mehr von der Wildheit, die bei der Landung von uns Besitz ergriffen hat. Diesmal ist es anders – so ähnlich wie eine Welle am Strand, die über uns hinwegspült und uns warm und atemlos zurücklässt.
Eine der Sonnen versinkt hinter dem Horizont,
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