Goebel, Joey
geht’s mir auch.«
Bernice betrachtete Blue Gene weiter prüfend, während der Wal-Mart-Gründer Sam Walton auf einem von der Decke hängenden Transparent über allen wachte. »Du bist’s wirklich, oder?« Ihre bläulichen Lippen verzogen sich zu einem ansteckenden Lächeln, das sich auf Blue Genes Gesicht übertrug. Er nickte. »Oh, Blue Gene. Mein Engel, du hast mir gefehlt.« Wenn sie sprach, klang sie wie ein heiserer Mensch, der zu schreien versucht.
»Du hast mir auch gefehlt. Ich hab mich gefragt, was mit dir ist.«
»Ich hätte dich nie erkannt, wenn du’s mir nicht gesagt hättest.« Sie mussten einigen Kunden den Weg frei machen, die zu den Einkaufswagen wollten. Bernice musterte Blue Gene immer noch von oben bis unten. »Also, warum musstest du dir das antun?«, fragte sie, ohne zu lächeln.
Blue Gene lachte. »Was denn?«
»All die Tätowierungen und die langen Haare. Du siehst ja aus wie ’n Zottelbär. Ohne das ganze Elend sähest du richtig gut aus.«
»Mach mich nicht fertig«, sagte er feixend. Er konnte ihr nur schwer etwas übelnehmen, weil er froh war, dass ihr alter Kampfgeist noch nicht völlig verschwunden war. Sie war Ende fünfzig, hätte aber für Mitte siebzig durchgehen können.
»Also ehrlich, mir ist schleierhaft, warum du so rumläufst.«
[341] »Entschuldige.« Sie sah nicht viel besser aus mit ihrem Männerhaarschnitt, dem ärmellosen Button-up-Hemd und türkisen Shorts, aus denen von Krampfadern durchzogene und von Sandflöhen zerbissene Beine ragten.
»Na ja«, sagte sie irritiert und beließ es dabei. Im Hintergrund lief »Baby Baby« von Amy Grant.
»Geht’s dir gut?«, sagte er, obwohl er wusste, wie absurd die Frage war. Wenn er sie ansah, bemerkte er zwangsläufig die in ihrer Nase steckenden Schläuche.
»Oh, heute geht’s mir schon besser, weil ich zum ersten Mal seit ’ner Ewigkeit draußen bin, weil mein Arzt sagt, er hat Angst, ich könnte ’ne Lungenentzündung kriegen. Ich hab dieses CURS . Doch ich wollte mir schon seit ’ner ganzen Weile diesen Super-Wal-Mart mal ansehen, und heute hab ich endlich die Energie aufgebracht.«
» CURS ?«
»Ist ’ne Lungenerkrankung. So was wie ein Emphysem. Außerdem hab ich noch kongestive Herzinsuffizienz.«
»Das tut mir leid.«
»Schon in Ordnung, Schatz. Das ist wohl mein Los.«
»Sag nicht so was.«
»Es ist nicht heilbar«, stellte sie nüchtern fest.
»Tut mir leid.«
»Ist aber okay. Es macht nichts.«
»Du wirkst noch so munter.«
»Ich bin fix und alle, Schatz. Mir geht echt schnell die Puste aus. Die kleinsten Kleinigkeiten kosten meine ganze Energie. Jetzt beispielsweise bin ich völlig erschöpft. Ich will unbedingt mit dir reden, Schatz, aber glaubst du, wir können uns irgendwo setzen?«
[342] »Na klar.« Blue Gene hob Bernice’ Sauerstoffflasche aus dem Wagen und begleitete sie zurück zu dem Bereich zwischen den beiden Automatiktüren, wo die Spiel- und Getränkeautomaten standen.
»Hab ich bei dir ein leichtes Hinken bemerkt?«
»Ja. Ist eine lange Geschichte.«
Sie setzten sich auf die beiden Holzbänke an der Seite, neben dem Ständer mit der Zeitung für private Kleinanzeigen und den Immobilienzeitschriften.
»Warst du das da draußen bei dem Mapother-Plakat?«
»Ja. John will in den Kongress.«
»Hm. Das ist ein Witz. Ich hab seine Fernsehwerbung gesehen und gedacht: Ist ja toll, der passt prima zu den anderen Idioten in Washington. Ist er immer noch so ein Wüstling?«
»Nö, in den letzten Jahren hat er sich beruhigt und ist solide geworden. Er hat Frau und Kind. Sieht so aus, als hätte er inzwischen sein Leben auf die Reihe gekriegt.«
Bernice war die ganze Zeit zappelig, fummelte ständig an ihrem Sauerstoffschlauch herum. »Nimm dich vor dem Jungen in Acht.«
»Warum sagst du das?«
»Ich weiß, dass ihr verwandt seid, aber er kennt keine Skrupel.« Beim Atmen formte sie die Lippen zu einem kleinen Schmollmund, als sauge sie Luft durch einen Strohhalm ein.
»Das dachte ich auch, aber Menschen ändern sich.«
Auf der anderen Seite des Vorraums sah ein Mann einem kleinen Jungen in Cowboystiefeln zu, der an einer Spielkonsole ein Autorennen fuhr, und schrie ihn an, er solle nicht gegen einen Baum fahren.
[343] »Was machst du so im Leben, Schatz?«
»Wie meinst du das?«
»Womit verdienst du deinen Lebensunterhalt?«
»Zurzeit arbeite ich in Johns Wahlkampfteam mit. Früher habe ich sieben Jahre lang im alten Wal-Mart gearbeitet. Das war noch ein herkömmlicher
Weitere Kostenlose Bücher