Goebel, Joey
fragte sich, ob er sich wohl wieder erbrechen musste, was er hoffte, da er alles Schlechte auskotzen [432] wollte. Im Korridor ertönten entschlossene Schritte. Als er aufschaute, sah er durch das kleine quadratische Fenster in der Stahltür das Ochsenfroschgesicht des Polizeichefs. Der Chief öffnete langsam die Tür, und Henry kam zum Vorschein.
»Lassen Sie sich Zeit«, sagte der Polizeichef.
»Es handelt sich um ein privates Vater-Sohn-Gespräch. Können Sie uns dabei hören?«
»Nein, Sir. Wir haben da drin eine Überwachungskamera, aber keinen Ton.«
Henry trat ein. Er blieb vor der verschlossenen Tür stehen und musterte Blue Gene ausdruckslos. »Geht es dir gut?«, fragte er leise.
»Was juckt’s dich, ob’s mir gutgeht?«, antwortete Blue Gene mit lauter Stimme.
»Lass uns manierlich bleiben. Bitte. Willst du wirklich nicht hier rauskommen?«
»Nicht wenn du meine Kaution stellst.«
»Hast du etwas dagegen, dass ich mich setze?«
Blue Gene zuckte mit den Schultern und rutschte über den aus den beigefarbenen Backsteinwänden ragenden glatten, kalten Beton, bis er in der Ecke angelangt war. Henry entschied sich für eine Stelle in der Nähe der anderen Ecke. Blue Gene hatte sich bereits überlegt, was er zu seiner Familie sagen würde, wenn und falls er sie je wiedersehen sollte.
»Rat mal, was ich gehört habe.«
»Ich weiß. John hat mich gestern Abend angerufen. Er ist deswegen fix und fertig.«
»Och, der arme John.«
[433] »Lass uns nach Hause fahren und darüber reden. Wir klären alles und besprechen deine Zukunft.«
»Ich will nicht mit dir reden«, sagte Blue Gene und hustete verschleimt.
»Du hörst dich krank an. Geht es dir gut?«
Blue Gene antwortete nicht. Von den Neonröhren bekam er üble Kopfschmerzen.
»Bist du krank?«, bohrte Henry nach.
»Ich hab Halsweh.«
»Dann komm mit. Sei bitte nicht so. Ich will nicht, dass du dich hier drinnen aufhältst, wenn du krank bist.«
Blue Gene betrachtete Henrys Gesicht. Er fand darin Besorgnis, außerdem eine andere Seltenheit: stecknadelkopfgroße Bartstoppeln am Kinn. Blue Gene konnte sich an sehr seltene Gelegenheiten erinnern – aber es hatte sie wirklich gegeben, oder zumindest glaubte er, dass es sie gegeben hatte –, als dieser Mann, der jetzt ihm gegenüber auf der Betonbank saß, ihn fest in den Arm genommen hatte. Und Blue Gene hatte nach oben gegriffen und sein Gesicht berührt und war jedes Mal überrascht gewesen, dass sich das Gesicht wie Schmirgelpapier anfühlte. Doch der Mann, der ihn früher in den Arm genommen hatte, war nicht der, für den Blue Gene ihn gehalten hatte. Und je länger Blue Gene jetzt dessen Gesicht betrachtete, desto weniger konnte er glauben, dass die Miene wirklich Besorgnis ausdrückte, auch wenn sie ehrlich zu sein schien.
»Lass mich in Ruhe.«
»Ohne dich gehe ich hier nicht weg. Erzähl mir, was gestern Abend passiert ist.«
»Hab mir ’n paar Bier gekauft. Bin runter zum Fluss [434] gefahren. Hab mich auf die Ladefläche von meinem Truck gelegt. Hab mich besoffen.«
»Wie bist du nach Vandalia Hills gekommen?«
»Zu Fuß.«
»Unmöglich. Heißt das, du bist vom Flussufer dorthin gegangen?«
»Jawoll.«
»Hast du allein getrunken?«
»Ja, ich hab allein getrunken. Ach so – du hast Angst, dass ich es jemand erzählt habe. Tja, hab ich aber nicht. Jedenfalls noch nicht. Hey… das ist doch der einzige Grund, weshalb du mich hier rausholen willst, stimmt’s? Du willst mich ständig im Auge behalten und dafür sorgen, dass ich keinem was verrate.«
Henry saß breitbeinig da und schaute auf seine Armbanduhr. »Sei still. Du sollst wissen, dass ich dir nicht böse bin.«
Blue Gene sprang von der Betonplatte hoch und stand wacklig auf den Beinen. Sie hatten ihm ein zu großes T -Shirt gegeben, so dass es schien, als hätte er keine Hose an. Er sah aus wie der schwachsinnige Patient eines Pflegeheims im Nachthemd und ohne Schuhe.
»Weshalb solltest du ausgerechnet mir böse sein?«
»Weil du dich hast verhaften lassen.«
»Dich sollte man verhaften. All die Lügen, die du mir mein Leben lang aufgetischt hast, die sind ein Verbrechen. Und von mir will ich gar nicht reden. Das Mädchen, das bei meiner Geburt gestorben ist –«
»Sei still!«
»Sie können uns nicht hören. Was ihr meiner leiblichen [435] Mutter angetan habt, ist das größte aller Verbrechen. Eigentlich müsstest du hier drin neben mir hocken.«
»Das besprechen wir zu Hause.«
Blue Gene nahm wieder in
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