Goebel, Joey
gesagt: Vergiss es! Der heutige Abend reicht völlig. Such nicht zu sehr seine Nähe.«
»Aber du hast ihn nicht in Aktion erlebt. Er ist einer von ihnen. Er macht das so unkompliziert und natürlich.«
[171] »Komm ihm nicht zu nahe. Ich meine es ernst. Es ist schon zu weit gegangen.«
»Ich dachte mir aber, dass er vielleicht doch in unsere Pläne passt. Vielleicht hat es einen Grund, dass es Blue Gene gibt. Vielleicht brauchen wir ihn.«
»Geh da rein!«, sagte Henry und wies auf Johns Garderobe. Er warf die Tür hinter ihnen zu. »Siehst du denn nicht, dass er uns bereits in die Quere kommt? Er stellt sich zwischen uns. Du solltest jetzt nicht mal an ihn denken. Deine Mutter und ich waren von Anfang an bei dir. An uns solltest du denken, nicht an ihn. Du musst jetzt deine Rede halten. Darauf haben wir unser ganzes Leben lang gewartet. Also, mach mich stolz. Ich glaube an dich. Ich weiß, dass du derjenige bist, der die gute alte Zeit zurückbringen wird.«
Henry meinte damit die 1950er Jahre, das Jahrzehnt, das für ihn Glück bedeutete. In Henrys Augen war damals alles besser gewesen. Damals war Amerika noch Amerika gewesen. Darauf sollte sich das Land seiner Ansicht nach zurückbesinnen. In den Fünfzigern war er noch ein Teenager gewesen, zu jung, um in den Koreakrieg einberufen zu werden. »Du sorgst dafür, dass alles wieder gut wird«, fuhr Henry fort. »Bist du bereit?«
»Ja«, sagte John leise.
»Natürlich bist du das. Ich lasse sie anfangen.« An der Tür drehte sich Henry um. »Du hast heute die Chance, alles wiedergutzumachen.«
Als sein Vater weg war, schaltete John bis auf eine kleine Lampe in der Ecke die Beleuchtung aus. Er setzte sich vor den Spiegel, stellte aber sofort fest, dass er zum Sitzen zu [172] aufgeregt war. Er stand auf und ging in dem kleinen Raum auf und ab, stellte sich vor, wie er vor der Menschenmenge stand, die größer war, als er angenommen hatte. Er dachte daran, wie verhasst ihm der Klang seiner eigenen Stimme war. Sein Unterhemd war klitschnass von Achselschweiß. Sogar sein Rücken fühlte sich feucht an. Er wünschte, Arthur wäre hier bei ihm; allein schon ihn zu sehen gab John ein Gefühl innerer Ruhe. Doch er hörte, wie der Conférencier alle aufforderte, ihre Aufmerksamkeit auf das Hissen der amerikanischen Flagge zu richten, was hieß, dass er sich bald auf die Bühne begeben musste. Er hörte, wie die Flagge mit Applaus und Jubelrufen begrüßt wurde.
Johns Wahlkampfleiter klopfte, steckte seinen Kopf durch die Türöffnung und sagte, gleich sei es so weit. John erwiderte, er komme sofort. Er war schrecklich zappelig und wollte sich beruhigen. Dann hörte er, wie der Conférencier alle aufforderte, sich für die Nationalhymne zu erheben, und als die lokale Prominenz das Lied a cappella schmetterte, raste Johns Herz, als galoppiere es auf ein furchtbares Ende zu. Falls es je einen Zeitpunkt gab, zu den pharmazeutischen Hilfsmitteln zurückzukehren, mit denen er sich früher zugedröhnt hatte, dann jetzt. Er dachte daran, dass er deutlicher und selbstsicherer sprechen konnte, wenn er betrunken oder high war. Er stellte sich vor, wie er eine Flasche Johnnie Walker an den Mund setzte und den Alkohol seine Speiseröhre hinunterschießen ließ. Er wünschte, er könnte sich irgendwie auf der Stelle von der Bar eine Flasche besorgen, hasste sich zugleich aber auch dafür, dass er solche Gedanken überhaupt zuließ. Er trat den Stuhl vor seiner Kommode quer durchs Zimmer. Dann kniete er sich vor die [173] Kommode und sah sich im Spiegel beim Beten zu, während die Nationalhymne gesungen wurde.
Er bat den Herrn, ihm Kraft zu schenken, unbegrenzte Kraft, damit er seine Bestimmung erfüllen könne, die vor so vielen Jahren durch die in den Kopf seiner lieben Mutter gepflanzte Prophezeiung auf seine Schultern gelegt worden sei. Er bat, dass sein Körper und sein Verstand ihn unterstützten, weil er an diesem Abend auf der Bühne stand. Er betete, dass seine Rede fehlerfrei verlaufe und positiv aufgenommen werde und dass dieser Abend der triumphale Anfang seines glorreichen Aufstiegs zum Spitzenpolitiker werde.
Er hörte die Menge begeistert jubeln, als die Frau aus der Pick-up-Werbung den hohen Ton von »for the la-and of the freeeeee « anstimmte. Es war Zeit, sein Gebet zu beenden und die Garderobe zu verlassen.
Er schloss mit dem Versprechen, er werde Gottes Wille tun und seinen Teil dazu beitragen, dass der Messias seinen irdischen Thron wieder besteigen
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