Gödel, Escher, Bach - ein Endloses Geflochtenes Band
Signalen keine Zweckgerichtetheit zuzusprechen?
Achilles: Ich glaube ja. Ich fange nun tatsächlich an, die Dinge von zwei verschiedenen Standpunkten aus zu sehen. Vom Ameisengesichtspunkt aus hat das Signal KEINEN Zweck. Die gewöhnlichen Ameisen in einem Signal wandern einfach kreuz und quer durch die Kolonie, ohne irgendetwas Besonderes zu suchen, bis sie Lust haben anzuhalten. Ihre Kameraden sind im allgemeinen einverstanden, und in diesem Augenblick entlädt sich das Team, indem es auseinanderbricht, und läßt nur die einzelnen Mitglieder, aber nichts von ihrer Kohärenz zurück. Das bedarf keiner Planung, keiner Vorausschau; auch braucht die richtige Richtung nicht bestimmt zu werden. Aber vom Standpunkt der K OLONIE aus, hat das Team soeben auf eine Botschaft reagiert, die in der Sprache der Kastenverteilung verfaßt war. Aus dieser Perspektive sieht es sehr wohl wie zweckgerichtete Aktivität aus.
Krebs: Was geschähe, wenn die Kastenverteilung völlig unregelmäßig wäre? Würden sich immer noch Signale bilden und wieder entbilden?
Ameisenbär: Gewiß. Doch würde die Kolonie nicht lange bestehen, weil ihre Kastenverteilung dann bedeutungsleer wäre.
Krebs: Genau das wollte ich auch betonen: Kolonien überleben, weil ihre Kastenverteilung eine Bedeutung hat, und diese Bedeutung ist ein holistischer Aspekt, der auf tieferen Stufen unsichtbar ist. Es läßt sich schlechter erklären, wenn man nicht die höheren Stufen mitberücksichtigt.
Ameisenbär: Ich verstehe Ihren Standpunkt, aber ich glaube, daß Sie die Dinge zu eng sehen.
Krebs: Wie meinen Sie?
Ameisenbär: Ameisenkolonien waren Milliarden von Jahren den Härten der Evolution ausgesetzt. Einige Mechanismen wurden ausgelesen, die meisten nicht. Was dabei schließlich herauskam, war eine Anzahl von Mechanismen, die bewirken, daß die Ameisenkolonien so funktionieren, wie wir es beschrieben haben. Könnte man den ganzen Vorgang in einem Film sehen — der natürlich etwa eine Milliarde mal schneller abliefe als die Wirklichkeit — dann würde die Entstehung der verschiedenen Mechanismen als natürliche Reaktion auf Druck von außen erscheinen, so wie Blasen im kochenden Wasser natürliche Reaktionen auf eine äußere Wärmequelle sind. Ich glaube nicht, daß Sie in den Blasen im kochenden Wasser „Bedeutung“ und „Zweck“ sehen — oder doch?
Krebs: Nein, aber ...
Ameisenbär: Das ist nun MEIN Standpunkt. Gleichgültig wie groß eine Blase ist, sie verdankt ihre Existenz Vorgängen auf der Molekularstufe, und man braucht sich um „Gesetze höherer Stufen“ nicht zu kümmern. Dasselbe gilt für Ameisenkolonien und ihre Teams. Betrachtet man die Dinge aus der gewaltigen Perspektive der Evolution, kann man die ganze Kolonie jeglicher Bedeutung und jeglichen Zwecks entleeren. Sie werden zu überflüssigen Begriffen.
Achilles: Warum, Dr. Ameisenbär, sagten Sie mir dann, Sie hätten mit Tante Colonia gesprochen? Jetzt klingt es so, als wollten Sie bestreiten, daß sie überhaupt sprechen und denken kann.
Ameisenbär: Ich bin nicht widersprüchlich, Achilles. Sehen Sie, auch mir fällt es
Abb. 61 . Erde , eine „Ameisen-Fuge“, von M. C. Escher (Holzschnitt, 1953).
schwer, die Dinge in einem so gewaltigen zeitlichen Maßstab zu sehen, deshalb finde ich es viel einfacher, meinen Standpunkt zu wechseln. Wenn ich das tue, die Evolution außer acht lasse, die Dinge so ansehe, wie sie sich hier und jetzt darbieten, kehrt das teleologische Vokabular wieder: die B EDEUTUNG der Kastenverteilung und die Z WECKGERICHTETHEIT der Signale. Das geschieht nicht nur, wenn ich an Ameisenkolonien, sondern auch, wenn ich an mein eigenes Gehirn und an andere Gehirne denke. Mit einiger Anstrengung jedoch kann ich mich immer, wenn nötig, dieser Standpunkte erinnern und auch all diese Systeme jeder Bedeutung entleeren.
Krebs: Die Evolution bewirkt gewisse Wunder. Man weiß nie, was für einen Trick sie als nächsten aus dem Ärmel schüttelt. Zum Beispiel würde es mich nicht im geringsten überraschen, wenn es theoretisch möglich wäre, daß zwei oder mehrere„Signale“ einander durchquerten, wobei kein Signal erkennen würde, daß das andere ebenfalls eines ist; jedes würde das andere so behandeln, als wäre es einfach ein Teil der Gesamtbevölkerung.
Ameisenbär: Es ist nicht nur theoretisch möglich, sondern es geschieht fortwährend.
Achilles: Hm ... Was für ein seltsames Bild beschwört das herauf! Ich kann mir Ameisen vorstellen, einige
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