Gödel, Escher, Bach - ein Endloses Geflochtenes Band
Schnellfüßigste aller Sterblichen) und eine Schildkröte stehen zusammen in greller Sonne auf einer staubigen Piste. Am anderen Ende der Piste weht an einem hohen Mast eine große rechteckige Fahne. Die Fahne ist ganz rot, nur ein ringförmiges Loch, durch das man den Himmel sehen kann, wurde aus ihr herausgeschnitten.
Achilles: Was ist denn das für eine seltsame Fahne am andern Ende der Piste? Irgendwie erinnert sie mich an ein Bild meines Lieblingskünstlers M. C. Escher.
Schildkröte: Das ist Zenos Fahne.
Achilles: Wäre es möglich, daß das Loch den Löchern in einem Möbiusstreifen ähnelt, den Escher einmal gezeichnet hat? Etwas stimmt mit dieser Fahne nicht, das merke ich schon.
Schildkröte: Der ausgeschnittene Ring hat die Form der Ziffer für Null, Zenos Lieblingszahl.
Achilles: Aber die Null ist ja noch gar nicht erfunden worden: Sie wird erst in ein paar Jahrtausenden von einem indischen Mathematiker erfunden werden. Und so, Herr S., beweise ich, daß eine solche Fahne Unmöglich ist.
Schildkröte: Ihre Gedankenführung leuchtet ein, Achilles, und ich muß zugeben, daß eine solche Fahne tatsächlich Unmöglich ist. Aber sie ist trotzdem schön, nicht?
Achilles: Oh ja, an ihrer Schönheit besteht kein Zweifel.
Schildkröte: Ich frage mich, ob ihre Schönheit mit ihrer Unmöglichkeit zusammenhängt. Ich weiß es nicht. Ich habe nie die Zeit gehabt, Schönheit zu analysieren. Es ist eine Große Essenz, und ich scheine für Große Essenzen nie Zeit zu haben.
Achilles: Apropos Essenzen, Herr S., haben Sie jemals über den Zweck des Lebens nachgedacht?
Schildkröte: Um Gottes willen, nein!
Achilles: Haben Sie sich denn niemals Gedanken gemacht, warum wir hier sind und wer uns erfunden hat?
Schildkröte: Oh, das ist etwas ganz anderes. Wir sind Erfindungen Zenos, wie Sie bald merken werden, und wir sind hier, um einen Wettlauf durchzuführen.
Achilles: Ein Wettlauf! Unerhört! Ich, der Schnellfüßigste aller Sterblichen, gegen Sie, den Schwerfälligsten aller Schwerfälligen! Ein solcher Wettlauf ist absolut sinnlos.
Schildkröte: Sie könnten mir einen Vorsprung geben.
Achilles: Der müßte aber groß sein.
Schildkröte: Ich habe nichts dagegen.
Achilles: Aber früher oder später werde ich Sie einholen — wahrscheinlich früher.
Schildkröte: Nicht, wenn die Dinge nach Zenos Paradoxie verlaufen, oh nein. Zeno hofft, anhand unseres Wettrennens zeigen zu können, daß Motion Unmöglich ist. Nach Zeno scheint Bewegung nur im Geiste möglich. Tatsächlich: Motion Ist Immer Illusion. Das beweist er recht elegant.
Abb. 10 . Möbiusstreifen I , von M. C. Escher (Holzstich und Holzschnitt aus vier Blöcken, 1961).
Achilles: Ach ja, ich erinnere mich nun: der berühmte Zen-Kōan über den Zen-Meister Zeno. Wie Sie sagen, es ist sehr einfach.
Schildkröte: Zen-Kōan? Zen-Meister? Was meinen Sie?
Achilles: Er lautet wie folgt: Zwei Mönche stritten wegen einer Fahne. Der eine sagte: „Die Fahne bewegt sich“. Der andere sagte: „Der Wind bewegt sich“. Der sechste Patriarch, Zeno, kam gerade des Wegs. Er sagte ihnen: „Nicht der Wind, nicht die Fahne, der Geist bewegt sich.“
Schildkröte: Ich fürchte, Sie sind etwas durcheinander, Achilles. Zeno ist kein Zen-Meister, alles andere: er ist vielmehr ein griechischer Philosoph aus der Stadt Elea (die in der Mitte zwischen den Punkten A und B liegt). In einigen Jahrhunderten wird er wegen seiner Paradoxien der Bewegung berühmt sein. In einer dieser Paradoxien wird eben dieser Wettlauf zwischen Ihnen und mir eine zentrale Rolle spielen.
Achilles: Ich bin ganz verwirrt. Ich erinnere mich lebhaft daran, wie ich die Namen der sechs Zen-Patriarchen unablässig wiederholte, und ich sagte immer: „Der sechste Patriarch is' Zeno, der sechste Patriarch is' Zeno ...“ (Plötzlich erhebtsich ein laues Lüftchen.) Oh, schauen Sie, Herr Schildkröte — wie die Fahne weht! Wie ich das liebe, zuzuschauen, wie das weiche Tuch sich kräuselt. Und auch der herausgeschnittene Ring weht im Winde!
Schildkröte: Unsinn! Die Fahne ist Unmöglich, also kann sie nicht wehen. Der Wind weht. (In diesem Augenblick kommt Zeno des Wegs.)
Zeno: Grüß Gott, äh — Zeus! Was gibt's denn Neu's?
Achilles: Die Fahne bewegt sich.
Schildkröte: Der Wind bewegt sich.
Zeno: Oh, Freunde, Freunde! Laßt ab von Euerm Zank! Keine Schmähwörter! Beendet Euern Hader, denn ich werde das Problem alsbald für Euch lösen. Ho! Und an einem so schönen Tag!
Achilles: Der
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