Gödel, Escher, Bach - ein Endloses Geflochtenes Band
Kerl spielt wohl den Narren.
Schildkröte: Nein, warten Sie, Achilles. Hören wir, was er dazu zu sagen hat. Unbekannter Herr, teilen Sie uns Ihre Gedanken zu dieser Angelegenheit mit!
Zeno: Aber gern. Nicht der Wind, nicht die Fahne — keins von beiden bewegt sich. Überhaupt nichts bewegt sich. Ich habe nämlich einen großen Lehrsatz entdeckt, welcher lautet: „Motion Ist Immer Illusion.“ Und aus diesem Satz ergibt sich ein noch größerer — Zenos Satz: „Motion Unexistiert.“
Achilles: „Zenos Satz“? Sind Sie etwa der Philosoph Zeno aus Elea?
Zeno: In der Tat bin ich's, Achilles.
Achilles (kratzt sich ratlos am Kopf): Woher weiß er denn meinen Namen?
Zeno: Könnte ich die beiden Herrschaften möglicherweise dazu bringen, mich zu Ende anzuhören, warum das der Fall ist? Ich bin heute nachmittag den ganzen Weg von Punkt A bis nach Elea gegangen und habe versucht, jemanden zu finden, der meiner messerscharfen Argumentation einige Aufmerksamkeit schenken würde. Doch die rennen alle hin und her und haben keine Zeit. Sie können sich nicht vorstellen, wie deprimierend es ist, einen Korb nach dem andern zu bekommen. Ach, es tut mir leid, Sie mit meinen Schwierigkeiten zu belästigen. Ich möchte nur eine Frage stellen: Würden die beiden Herrschaften einem alten einfältigen Philosophen für ein paar Augenblicke — nur ein paar, ich verspreche es — entgegenkommen und seine ausgefallenen Theorien mit Geduld ertragen?
Achilles: Aber sicher! Bitte erleuchten Sie uns! Ich weiß, daß ich für uns beide spreche. Mein Gefährte, Herr Schildkröte, sprach eben erst mit großer Verehrung von Ihnen — und er erwähnte insbesondere Ihre Paradoxien.
Zeno: Danke. Sehen Sie, mein Meister, der fünfte Patriarch, lehrte mich, daß die Wirklichkeit eine einzige ist, unbeweglich und unveränderlich. Pluralität, Veränderung und Bewegung sind lediglich Sinnestäuschungen. Einige haben sich über seine Ansichten lustig gemacht, aber ich werde zeigen, wie absurd ihr Spott ist. Mein Gedankengang ist ganz einfach. Ich werde ihn mit zwei Wesen, meiner eigenen Invention, illustrieren: Achilles, einem griechischen Krieger, dem Schnellfüßigsten aller Sterblichen, und einer Schildkröte. In meiner Erzählung lassen sie sich von einem Passanten dazu überreden, einen Wettlauf auf einer Piste auszutragen. Ziel ist eine Fahne, die in der Ferne im Winde weht. Nehmen wir an, daß die Schildkröte der um vieles langsamere Läufer ist und deshalb einenVorsprung von, sagen wir, zehn Ruten erhält. Der Wettlauf beginnt. In ein paar Sprüngen hat Achilles den Punkt erreicht, an dem die Schildkröte startete.
Achilles: Hah!
Zeno: Und die Schildkröte ist nur noch eine einzige Rute vor Achilles. In einem Augenblick hat Achilles diesen Punkt erreicht.
Achilles: Hoho!
Zeno: Aber in diesem kurzen Augenblick ist die Schildkröte ein kleines Stückchen weiter gekommen. In Windeseile legt Achilles auch diese Strecke zurück.
Achilles: Hihihi!
Zeno: Aber in diesem kurzen Augenblick ist es der Schildkröte gelungen, ein winziges Stück vorwärtszukommen, und Achilles liegt noch immer hinten. Nun können Sie erkennen, daß dieses Spiel „Versuch-mich-zu-fangen“ eine UNENDLICHE Anzahl von Malen gespielt werden muß, wenn Achilles jemals die Schildkröte einholen soll — und deshalb kann er sie NIEMALS einholen.
Schildkröte: Heh heh heh heh!
Achilles: Hmm hmm hmm hmm hmm ... Da scheint etwas nicht zu stimmen. Und doch sehe ich nicht recht, was nicht stimmt.
Zeno: Eine harte Nuß, nicht? Es ist meine Lieblingsparadoxie.
Schildkröte: Verzeihen Sie, Zeno, aber ich glaube, daß Ihre Erzählung das falsche Prinzip illustriert. Sie haben uns soeben das beschrieben, was nach Jahrhunderten als Zenos „Achilles-Paradoxie“ bekannt sein wird und zeigt (hm!), daß Achilles die Schildkröte nie einholen wird; aber der Beweis, daß Motion Immer Illusion Ist (daß also Motion Unexistiert), ist Ihre „Dichotomie-Paradoxie“, nicht wahr?
Zeno: Oh, ich Esel. Natürlich haben Sie völlig recht. Das ist diejenige, wie man, wenn man von A nach B geht, zuerst die erste Hälfte der Strecke zurücklegen muß und von der übrigbleibenden Strecke noch einmal die Hälfte usw. usw. Aber Sie sehen ja: beide Paradoxien haben eigentlich das gleiche Flair. Um es offen zu sagen, ich habe bloß eine einzige große Idee gehabt; ich beute sie nur auf verschiedene Arten aus.
Achilles: Ich schwöre, diese Beweisführungen enthalten eine schwache Stelle.
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