Gödel, Escher, Bach - ein Endloses Geflochtenes Band
warum?
In der Zeitschrift The New Yorker wurde das folgende Zitat aus dem „Philadelphia Welcomat“ nachgedruckt: 1
Wenn Leonardo da Vinci als Frau auf die Welt gekommen wäre, wäre die Decke der Sixtinischen Kapelle vielleicht nie ausgemalt worden.
The New Yorker kommentiert:
Und wenn Michelangelo ein Paar siamesischer Zwillinge gewesen wäre, wäre die Arbeit in der Hälfte der Zeit fertig gewesen.
Der Witz des Kommentars liegt nicht darin, daß solche contrafaktischen Behauptungen falsch sind, sondern eher darin, daß jemand, der solche Gedanken hegt — der das Geschlecht oder die Anzahl der Menschen verrutschen läßt — ein bißchen verrückt sein müßte. Ironischerweise war aber in der gleichen Ausgabe der folgende Satz am Schluß einer Buchbesprechung ohne Erröten abgedruckt:
Ich glaube, daß er [Professor Philipp Frank] beide Bücher enorm genossen hätte. 2
Nun ist der arme Professor Frank jedoch tot, und natürlich ist es Unsinn zu behaupten, daß jemand nach seinem Tod geschriebene Bücher lesen könnte. Warum wird dieser ernsthafte Satz nicht auch angeprangert? Irgendwie, in einem schwer zu definierenden Sinn tun die in diesem Sinn verrutschten Parameter unserem Sinn für das „Mögliche“ nicht soviel Gewalt an wie in den vorausgegangenen Beispielen. Irgend etwas erlaubt uns, uns „ceteris paribus“ bei diesem besser zu fühlen als bei den anderen. Aber warum? Was ist an der Art, in der wir Begebenheiten und Menschen klassifizieren, dran, was uns im tiefsten Herzen sagt, was zu verrutschen „vernünftig“ und was „albern“ ist?
Man beachte, wie selbstverständlich es ist, von der wertfreien Aussage „Ich kann nicht russisch“ zu dem stärker aufgeladenen „Ich würde gerne russisch können“ zu dem emotionalen Konjunktiv „Ich wollte, ich könnte russisch“ und schließlich zu der vollen contrafaktischen Feststellung zu gelangen: „Wenn ich russisch könnte, könnte ich Tschechow und Lermontow im Original lesen.“ Wie oberflächlich und leblos wäre ein Geist, der in einer Negation nichts sähe als eine undurchsichtige Schranke. Ein lebendiger Geist jedoch kann durch ein Fenster mit einem Ausblick auf eine Welt von Möglichkeiten sehen.
Ich glaube, daß „Beinahe"-Situationen und unbewußt erzeugte Subjunktive die reichste Quelle für Einsichten sind, wie der Mensch seine Welt organisiert und kategorisiert. Ein beredter Mitstreiter für diese Auffassung ist der Linguist und Übersetzer George Steiner, der in seinem Buch Nach Babel geschrieben hat:
Hypothetische Behauptungen, Bilderwerk, Konditionalsätze, die Syntax als contra-faktisch und kontingent können sehr wohl die Erzeugungszentren der menschlichen Sprache sein ... [Sie] leisten mehr, als lediglich philosophische und grammatische Perplexität zu verursachen. Nicht weniger als zukünftige Tempora, mit denen sie gefühlsmäßig verwandt sind und mit denen sie wahrscheinlich in der umfassenderen Menge der „Suppositionalen“ oder „Alternativen“ zu klassieren sind diese. „Wenn-Sätze“ sind für die Dynamik des menschlichen Empfindens grundlegend ...
Uns gehört die Fähigkeit, die Notwendigkeit, die Welt „ungesagt“ oder „nicht gesagt“ zu machen, sie anders zu bilden und auszusprechen ... Wir brauchen einWort, das die Kraft, den Zwang der Sprache bezeichnet, „Anderssein“ zu setzen ... Vielleicht tut es „Alternität“, um das „Anders als der Fall“, die contrafaktualen Behauptungen, Bilder, Gestalten des Willens und des Ausweichens zu definieren, mit denen wir unser geistiges Wesen beladen und vermittels derer wir das ständig sich ändernde, großenteils fiktive Milieu unserer somatischen und unserer sozialen Existenz aufbauen ...
Schließlich stimmt Steiner eine contrafaktische Hymne auf die Contrafaktualität an:
Es ist unwahrscheinlich, daß der Mensch, wie wir ihn kennen, ohne fiktive, contrafaktuelle, anti-deterministische sprachliche Mittel überlebt hätte, ohne die semantische Fähigkeit, die in den „überflüssigen“ Zonen der Gehirnrinde erzeugt und aufbewahrt ist, sich Möglichkeiten auszudenken und zu artikulieren jenseits der Tretmühlen des organischen Zerfalls und des Todes. 3
Die Erzeugung von „subjunktiven“ Welten erfolgt so beiläufig, daß wir kaum bemerken, was wir tun. Wir wählen aus unserer Phantasie eine Welt aus, die in einem inneren, geistigen Sinn der wirklichen Welt nahe ist. Wir vergleichen das, was wirklich ist, mit dem, was wir als fast richtig
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