Gößling, Andreas
schrill, dünn, monoton – als ob da jemand auf den Zähnen zu pfeifen versuchte, obwohl er nur noch ein paar faulige Zahnstummel sein Eigen nannte. Aus irgendeinem Grund bekam man vom bloßen Zuhören eine Gänsehaut.
Eilends arbeiteten sie sich weiter durch die Erdhügel und Gruben. Wenn es nach Marian gegangen wäre, hät ten sie sich ruhig ein bisschen Zeit lassen und erst noch mal überlegen können, was da auf der Vorderseite des Hauses möglicherweise auf sie wartete.
Aber Billa stürmte unbekümmert drauflos – und blieb dann allerdings an der Hausecke so unvermittelt stehen, dass Marian von hinten gegen sie rannte. »Verdammt, Marian«, sagte sie. »Was treibt dein Wanderer da?«
Marian schob sie zur Seite und spähte hinter der Ecke hervor. An der Vorderseite des Hauses gab es einen wei teren Hof, der noch düsterer als der rückwärtige war. Von hohen Mauern aus dunklen Steinen umgeben. Dahinter ragten riesengroße Bäume auf – beinahe wie im Hexenholz.
Offenbar hatte Hanno Bußnitz nun genügend Moorleichen beisammen, um die magische Steinzeitzeremonie nachzuspielen. Neun modrige Brüder hatte er mitsamt ihren Baumsärgen um sich herum aufgestellt – angeordnet zu einem Oval, wie er es auf den Höhlengemälden gefunden hatte. Inmitten seiner makabren Zuhörer saß er im Schneidersitz am Boden, die Augen geschlossen, und spielte hingebungsvoll auf der Knochenflöte. Seine pechschwarze Anzugjacke hatte er ausgezogen und einem der Brüder um die Schultern gehängt. Die Flöte war viel größer, als Marian das erwartet hatte. Sie sah aus, als ob sie mindestens aus einem Mammutknochen geschnitzt worden wäre – dick und gekrümmt wie ein altmodisches Posthorn.
Schließlich ließ Bußnitz die Knochenflöte in seinen Schoß sinken und öffnete die Augen. »Ich dachte mir, dass du mich heute besuchen würdest«, sagte er in Richtung der Hausecke, wo Marian und Billa auf der Lauer lagen. »Willst du mir deine Begleiterin nicht vorstellen, Marian?«
Überrumpelt kamen sie aus ihrem Versteck hervor. »Nicht schlecht, Professor«, sagte Marian und bemühte sich, möglichst lässig zu wirken. »Und woher wussten Sie, dass ich heute kommen würde?«
Bußnitz hob die Schultern und ließ sie ruckartig wieder fallen. »Sagen wir – ich hatte es im Gefühl.«
»Tja, wirklich ’ ne geile Show«, mischte sich Billa ein. Ihr rostiger Tonfall ließ Marian zusammenfahren. »Aber wenn Sie echt hellsehen könnten, müssten Sie auch wis sen, wer ich bin.«
Der Professor entknotete seine Beine und sprang behände auf. Mit der Knochenflöte deutete er auf Billa, während er zwischen zweien seiner Schlammleichen hindurch auf sie zukam. »Du bist das Mädchen, das jeden Sommer auf Klothas Hof verbringt, habe ich recht?« Einen Schritt vor ihnen blieb er stehen und schaute Billa aufmerksam an. Was er zu sehen bekam, schien ihn zu erschrecken, doch im nächsten Augenblick setzte er wieder sein knittriges Pokerface auf. »Faszinierend«, sagte er. »Dieses Leuchten in deinen Augen. Woran erinnert mich das nur?«
»Vielleicht an Ihren letzten Discobesuch?« Billa ließ ein albernes Kichern hören.
Der Professor zog die Augenbrauen hoch und musterte sie erstaunt. Dann wandte er sich Marian zu. »Letzte Woche habe ich dir von den Höhlengemälden erzählt.« Er deutete mit dem Kopf zu den Moorleichen. »Drinnen habe ich originalgetreue Kopien. Willst du mal einen Blick darauf werfen? Deine Meinung wäre mir wichtig – denn irgendetwas scheine ich bei der ganzen Sache nach wie vor zu übersehen.«
Marian warf Billa einen raschen Seitenblick zu. Sie lä chelte ganz lieb zurück und hängte sich bei ihm ein. »Würde ich mir sehr gerne mal ansehen«, sagte er zu Bußnitz. »Und wenn Sie dann auch noch ein paar Minuten Zeit für uns hätten?«
Der Professor sah mit hintergründigem Lächeln von Marian zu Billa. »Zufällig habe ich gerade heute Sprechstunde für Nachwuchsforscher. Bitte folgt mir.«
Im Haus war es noch düsterer als draußen. Daran änderte sich auch nur wenig, als der Professor eine funzlige Deckenlampe einschaltete. Sie durchquerten eine Vorhalle, die von modrigem Geruch erfüllt war. »Bitte sehr um Nachsicht«, sagte Bußnitz, »aber meine Mitbewohner mögen kein Tageslicht.« Er deutete auf einige Vitrinen. Im Vorbeigehen sah Marian, dass all diese Glaskästen mit Mumien und Moorleichen in unterschiedlichen Zerfallsstadien gefüllt waren. »Da liegen sie und träumen von der Unsterblichkeit«,
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