Gößling, Andreas
Rückseite, »Meister der Loge zu den Spiegeln des Lichts«. Und auf der Vorderseite: »Für Marian Hegendahl – sehr eilig!«
Der Wirt ließ seine Tausendfüßler-Brauen tanzen. »Neues in der Erbschaftssache?«, fragte er in so gelangweiltem Tonfall, als ob kein Thema auf dieser Erde ihn weniger interessieren würde. Dabei wusste Marian von seiner Mutter, dass ganz Croplin sich praktisch Tag und Nacht die Mäuler über sie beide zerriss. Mutter und Sohn, die das Logenhaus belagerten, bis die Brüder einen Teil des Erbes von Urgroßonkel Marthelm rausrückten.
Marian ging hinter seinen Haaren in Deckung. »Keine Ahnung«, murmelte er.
Der Wirt grinste so wissend, als ob er den Brief durch das Kuvert hindurch längst gescannt hätte. »Ach ja«, sagte er, »deine Mutter lässt dir was ausrichten – sie ist mit Frau Doktor Dommler zu einem unserer traumhaften Ba deseen gefahren.«
Frau Doktor Dommler? Das war doch nicht etwa Bab si? Na ja, wer sonst. »Äh, danke«, sagte Marian.
Der Wirt blieb noch mindestens drei Sekunden lang neben seinem Tisch stehen und starrte auf das Kuvert von Godobert. Dann endlich drehte er ab und schlurfte hinter seinen Tresen.
Am liebsten hätte Marian den Brief einfach weggeschmissen, ohne auch nur reinzusehen. Oder ihn zumin dest irgendwo versenkt und schleunigst vergessen. Solan ge er nicht wusste, was Godobert von ihm wollte, brauchte er auch nicht hinzugehen, oder? Aber im Grunde wusste er es sowieso schon, also war er es besser, die Sache hinter sich zu bringen.
Er riss das Kuvert auf und fischte ein vergilbtes Blatt heraus. Sonst war nichts weiter drin – kein Dämonenüberrest und auch kein Talmibro. Nur dieser schon reich lich altersschwache Zettel, der mit einigen offenbar has tig hingekritzelten Zeilen bedeckt war.
Lieber Marian,
»hilf Deinen Brüdern, wenn sie Deiner bedürfen – dann wird auch Dir Hilfe in der Not zuteilwerden.« So lautete das Lebensmotto unseres verewigten Meisters, und ich bin sicher, dass Du auch in diesem Punkt seinem leuchtenden Vorbild folgen wirst.
Bitte suche umgehend das Logenhaus auf. Das gewisse Problem duldet keinen Aufschub mehr. Also zögere nicht länger – sondern hilf beherzt. »Die Not ist groß und größer noch der Lohn.«
Mit brüderlichem Gruß
Karl Godobert
Marian faltete den Brief zusammen und gleich wieder auseinander . »Das gewisse Problem duldet keinen Auf schub mehr« – was zum Teufel sollte das bedeuten? Be reiteten sich die Dämonen vielleicht zum Sturm auf die Pforte unter dem Logenhaus vor? Und ausgerechnet er, Marian, sollte erneut probieren, das Sphärenfenster zu verschließen oder am besten gleich ganz zum Verschwinden zu bringen – auf die Gefahr hin, dass er diesmal komplett auf die andere Seite gesaugt wurde?
Tut mir leid, dachte er wieder, aber nicht mit mir. Jedenfalls nicht jetzt – und zwar aus gleich zwei Gründen, die sich allerdings mehr oder weniger gegenseitig ausschlossen. Grund Nummer eins: Schon bei der Vorstellung, diesem verdammten Sphärenfenster auch nur nahe zu kommen, wurde ihm kotzschlecht, und sein Herz fing an, wie irrsinnig gegen seine Rippen zu hämmern – vor Horror, dass ihm dasselbe passieren könnte wie Billa. Oder sogar wie Odilo, dem »armen Freund«: von einem Dämon nicht nur harpuniert, sondern besessen, sodass er alles machen müsste, was das Biest ihm befahl. Falls aber – Grund Nummer zwei – er und Billa im Hexenholz nichts ausrich ten konnten, würde ihm trotz alledem nichts anderes übrig bleiben, als selbst durch diese Pforte zu gehen: zurück in die Zeit, bevor Justus die Ungeheuer erschaffen hatte.
Aber noch hatte er »ein paar Trümpfe in die Strümpfe«, um es mit Opa Johann zu sagen. Marian stopfte sich ein Croissant in den Mund und Godoberts Brief in die rechte Jeanstasche. Am Wirt vorbei schlurfte er aus der Gaststube und bei jedem Schritt klackten das Talmibro und das Medaillon in seiner linken Hosentasche gegeneinander. Es klang, als ob die beiden nicht besonders gut miteinander klarkämen.
Das Gewusel draußen auf dem Kirchplatz kam ihm to tal unwirklich vor. Wie konnten all diese Leute um Würste oder Dörrfisch feilschen – während da draußen im Bannwald praktisch schon der Countdown zum Weltuntergang lief? Marian schob sich durchs Gedränge, heilfroh, als er endlich die Marktstände hinter sich hatte und in der Herrengasse schneller vorwärtskam. Obwohl auch hier Unmengen von Leuten unterwegs waren.
Er stellte sich vor, wie die Golems
Weitere Kostenlose Bücher