Gößling, Andreas
bringen, wenn er diesen Umschlag öffnete? Doch genauso gut war es möglich, dass Marthelm ihm magische Geheimnisse vermacht hatte, durch die sich sein Leben von Grund auf ändern würde.
Er streckte die Hand nach dem Umschlag aus und zog sie gleich wieder zurück. So war es ihm schon den ganzen Nachmittag über gegangen: Stunde um Stunde hatte er mit Linda und der restlichen Verwandtschaft in der Gaststube ausgeharrt. Anstatt unter einem Vorwand nach draußen zu gehen und endlich nachzusehen, was das Kuvert enthielt, hatte er sich das Gejammer und Geschimpfe der Hegendahls angehört. Unermüdlich hatten seine Onkels und Tanten über den »egoistischen Alten« und »hartherzigen Verrückten« hergezogen. Die Freimaurer nannten sie »debile Pinguine« oder ganz einfach »Erbschleicher« – glücklicherweise hatten Godobert und seine Brüder die Trauerfeier da längst wieder verlassen. Auch Linda hatte mehr als einmal über Marthelm gelästert: »Wie kann man nur so wenig Familiensinn haben!«
Dabei verstand Marian noch immer nicht, worüber sie alle sich dermaßen aufregten. Sie hatten Marthelm sein Leben lang gemieden und verspottet, warum erwarteten sie dann, dass er ihnen trotzdem seine Besitztümer schenkte?
In der Wand neben seinem Bett rauschten die Wasser leitungen. Bestimmt war Linda auch noch wach – dabei hatten die Glocken vom Kirchturm gegenüber schon elf und halb zwölf geschlagen. Aber so, wie seine Mutter sich vorhin aufgeregt hatte, würde sie wohl auch keinen Schlaf finden. Vielleicht sollte er doch noch mal zu ihr rübergehen und ihr von Godobert und dem Umschlag erzählen? Nein, auf keinen Fall.
Das blonde Mädchen fiel ihm ein, das er durch die Fensterscheibe im Hinterhof gesehen hatte. In Gedanken starrte er wieder in ihre brennend blauen Augen, und ohne richtig zu bemerken, was er da machte, griff er nach Marthelms Kuvert. Wie sie mich angegrinst hat, dachte Marian und riss mit einem Ruck den Umschlag auf.
Ein dicker Papierbogen, zweifach gefaltet, glitt hervor. Er fühlte sich seltsam hart an, so als ob er lackiert worden wäre wie die Baumsärge im Ofen von Hanno Bußnitz. Das Blatt schien vergilbt – im Kontrast zu der geradezu leuchtend schwarzen Tinte, mit der Marthelm Hegendahl sein Vermächtnis darauf gekritzelt hatte.
Marian entfaltete den Bogen und glättete ihn vorsichtig zwischen den Händen. Nur mit Mühe konnte er die schnörkelreichen Zeilen entziffern.
Croplin, den 15. August
Mein, lieber Urgroßneffe Marian,
bestimmt erstaunt es Dich, diese Zeilen von einem Verwandten zu erhalten, mit dem Du niemals ein Wort gewechselt hast und der genau ein Jahrhundert älter ist als Du. Mir ist sehr wohl bewusst, dass Dein Vater. Christian seit vielen Jahren keine Anstrengun gen gescheut hat, um Dich von mir fernzuhalten. Da ich Dich nicht in Gewissenkonflikte stürzen wollte, habe ich mich gefügt, denn lange Zeit glaubte ich, dass es mir gelingen würde, den Fluch vor der Zeit zu brechen.
Aber ich habe mich getäuscht: Meine Lebensspan ne geht zu Ende und die große Aufgabe ist noch immer ungelöst. Ich fühle, dass ich bald von hier weggehen muss – durchs ewige Licht hindurch, wie wir in der Bruderschaft sagen. Und so will ich Dich nun ei lends in die wichtigsten Punkte einweihen, ehe diese Feder meiner alten Hand entgleitet. Denn Du, lieber Mari an, Du allein bist berufen , das Werk zu vollenden und den schrecklichen Fluch z u brechen.
Marian konnte zwar jedes einzelne Wort entziffern – aber das Ganze ergab keinerlei Sinn, oder? Was für ein Fluch denn, um Himmels willen!
Das gelbstichige Blatt war mit Tintenklecksen und -spritzern übersät. Er stellte sich vor, dass Marthelm tatsächlich eine große Vogelfeder verwendet hatte, um den Brief zu schreiben: Das hohle Ende hatte er in ein Tintenfass getaucht, dann mit ritzendem Federkiel gekritzelt, bis die Tinte darin verbraucht war. Entsprechend waren die Linien und Bögen der einzelnen Schriftzeichen mal breit und üppig, dann wieder schmal und blass, wenn Marthelm die letzten Schnörkel fast ohne Tinte ins Papier gekratzt hatte.
Erneut beugte sich Marian über den Brief. Noch immer begriff er nicht im Geringsten, was Marthelm von ihm wollte.
Du sollst wissen, mein lieber Urgroßneffe, dass ich mein ganzes Leben einer Aufgabe gewidmet habe, de ren letztendliche Erfüllung mit trotz größter Mühen versagt geblieben ist. Ich lege sie daher in Deine Hände, denn Du allein bist berufen, die Menschheit vor der
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