Gößling, Andreas
schleimig grau gewesen, kein Spiegeln weit und breit. Um noch genauer zu sehen, kniff er die Augen zusammen, und vor Anstrengung begann er auch wieder zu schielen. Seine Augäpfel rutschten ein wenig nach innen, und da geschah etwas noch sehr viel Seltsameres mit dem Talmibro: Das aufgeklappte Innere wurde durchsichtig, so als ob es ein Fenster wäre – ein Durchguck in eine andere Welt oder Wirklichkeit.
Für einen ganz kurzen Moment, kaum länger als ein einziger holpriger Herzschlag, sah Marian auf der anderen Seite dieses »Fensters« eine nebelhafte Gestalt. Sie war winziger als sein eigener kleiner Finger: ein Junge anscheinend, oder ein junger Mann, der vor einem altertümlichen Stehpult stand. Was genau da vor ihm auf der Pultplatte lag, konnte Marian nicht erkennen. Ein aufgeschlagenes Buch vielleicht, daneben eine Art Tintenfass – dann begannen Marians Augen vor Anstrengung zu tränen.
Das Bild verschwamm – und wie immer, wenn er geschielt und seine Augen mit Gewalt in die richtige Stellung zurückgezwungen hatte, bekam er im gleichen Moment wahnsinnige Kopfschmerzen.
9
Müde und schlecht gelaunt saß Marian am nächsten Morgen seiner Mutter beim Frühstück gegenüber. Ein köstlicher Geruch nach Toast, Rührei und sogar Bratfisch zog durch die Gaststube. Auf dem Tresen war ein Frühstücksbüffet aufgebaut worden, aber Marian hatte keinen Appetit.
Lustlos stocherte er in seinem Omelett herum. Er war so müde, dass er kaum die Augen aufhalten konnte. Erst als es draußen schon wieder zu dämmern begann, war er in unruhigen Schlaf gefallen. Im Traum hatten sich die Freimaurer bei den Händen gefasst und waren um ihn herumgetanzt. Anstelle ihrer Köpfe hatten riesengroße Talmibros auf ihren Hälsen gesessen. Er hatte es nicht gleich bemerkt, weil die Talmibros durch die hohen Hüte halb verdeckt wurden – umso mehr hatte ihn der Anblick dann erschreckt. Die grünlich funkelnde Scheibe ihrer Gesichter. Darin die diagonal aufklappenden Münder, als die alten Männer auch noch anfingen, im Chor zu singen: »Brich den Fluch bis neun und neun – sonst gehn wir alle dahin, hu, hu!«
Es ergab keinerlei Sinn, aber das traf schließlich genauso auf Marthelms Brief zu, oder? Heute früh hatte Marian alles um sich herum vorgefunden, wie er es in der Nacht auf seinem Bett und dem Teppich verstreut hatte. Den Brief und das Talmibro hatte er in den Umschlag zurückgeschoben und das Kuvert dann ganz unten in seinem Koffer versteckt. Aber er hatte sich nicht überwinden können, sich vorher noch einmal in das verrückte Vermächtnis seines Urgroßonkels zu vertiefen. Geschweige denn, das Talmibro aufs Neue auseinanderzuziehen. Er hatte es nur mit einem Blick gestreift und dabei registriert, dass es sich über Nacht wieder geschlossen hatte.
Im Moment fühlte er sich einfach nicht stark und ausgeruht genug, um sich mit dem seltsamen Ding zu beschäftigen. Es war so unheimlich, dass er ein hässliches Nagen im Magen fühlte, wenn er auch nur ganz kurz an das Talmibro dachte. Und daran, wie es sich verwandelt hatte – erst zum Spiegel, dann zu einer Art Durchguck geworden war.
Linda wirkte kaum weniger übernächtigt als er. »Vor Wut hab ich kein Auge zugetan«, verkündete sie und schenkte sich mindestens schon die dritte Tasse Kaffee ein. »Uns einfach so abzufertigen! Na, die sollen mich kennenlernen.«
Marian zuckte mit den Schultern. »Was willst du machen – Godobert als Geisel nehmen?«
»Notfalls auch das.« Linda sah ihn kampflustig an. »Was hältst du davon, wenn wir noch etwas länger hierbleiben?«
Er beugte sich tiefer über seinen Teller. Schulterlange Haare waren manchmal äußerst praktisch – auch wenn Jannik und Jessica ihn gestern als »Retro-Hippie« verhöhnt hatten. »Meinetwegen«, murmelte er durch den dunkelblonden Vorhang. Linda musste ja nicht unbedingt mitkriegen, wie gut ihm dieser Vorschlag gefiel. »Was hast du denn hier noch vor?«
Linda schaute verstohlen nach links und rechts. Der überwiegende Teil ihrer Verwandtschaft war schon gestern Abend oder heute in aller Frühe wieder abgereist. Nur an einigen Tischen weiter hinten saßen noch ein paar Überreste der »Hegendahl’schen Brut« beim Frühstück. Dennoch dämpfte Linda ihre Stimme fast zu einem Flüstern, als sie ihm antwortete: »Mit dem Notar reden, der das Testament beglaubigt hat. Und mit diesen Logenbrüdern, die sich Marthelms Besitz unter den Nagel gerissen haben. Schließlich sind wir zwei nicht gerade
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