Gößling, Andreas
vorbei. Was wollen die klapprigen Kerle denn überhaupt mit Marthe lm s Vermögen? Es mit ins Grab nehmen und dir die Zukunft verbauen – nur weil der Alte mit seinen Verwandten über Kreuz lag? Das sollen sie uns dann aber bitte sehr auch ins Gesicht sagen.«
Linda klappte erneut ihre Handtasche auf und zog einige zerfledderte Papiere hervor. »Mal schauen, ob ich auch die Adresse dieser Loge hier finde.« Sie blätterte kurz und schnaufte dann vor Empörung auf. »Sieh an, diese Burschen haben aber auch keine Minute vergeudet.« Sie hielt Marian einen Briefbogen hin und tippte mit dem Zeigefinger anklagend auf die rechte obere Ecke. Dort stand in altmodischer Druckschrift:
Loge »Zu den Spiegeln des Lichts «
Ehem. Hegendahl’sches Gutshaus
Am Bannwald 1 – Croplin i . Moor
Linda deutete die Gasse hinunter. »Schätzungsweise müssen wir dort entlang. Ich war zwar noch nie in diesem Croplin, geschweige denn in Marthelms Spukhaus. Aber du hast gestern ja selbst die ganzen Schauergeschichten gehört, die in der Familie über den Alten erzählt werden. Demnach befindet sich das Hegen dahl’sche Gutshaus an der äußersten östlichen Stadtgrenze. Es dürf te also auch für Ortsfremde leicht zu finden sein – es sei denn, wir verirren uns im sogenannten Bannwald. Der beginnt nämlich direkt an der Hinterseite des Anwesens und gilt seit Jahrhunderten als verwunschen.«
Sie machte Marian ein energisches Zeichen, ihr zu folgen, klemmte sich die Handtasche unter den Arm und marschierte los.
11
Selbst am hellen Vormittag sah das Hegendahl’sche Anwesen finster aus. Aus dunklem Stein errichtet, der durch Alter und Moorluft fast schwarz verwittert war. Umgeben von einer mannshohen Mauer, mit einem Tor aus gleichfalls schwarzen Eisenstäben. Dahinter ragte das Gutshaus wie der Schädel eines riesenhaften Ungeheuers auf, das vom Hals abwärts noch in der Erde steckte.
House = Head, dachte Marian. Neben Linda stand er vor dem Gittertor und betrachtete unbehaglich das Gemäuer, in dem Marthelm Hegendahl sein Leben verbracht hatte. Ein breiter, eingeschossiger Bau, mit glotzenden Fensterhöhlen. Das Reetdach, ebenfalls altersdunkel, ähnelte einem tief in die Stirn gezogenen Helm. Am rechten Torpfosten war ein Schild mit dem mittlerweile vertrauten Schriftzug in goldenen Lettern befestigt: Loge zu den Spiegeln des Lichts.
Hinter dem Tor führte ein Kiesweg schnurgerade auf die Haustür zu, die selbst aus einer Entfernung von 15 oder 20 Schritten abweisend wirkte. Eine schmale Luke, mit schwarzem Eisen beschlagen, durch die man schwer rein- und noch sehr viel schwerer wieder rauskam.
Okay, sagte sich Marian, aber das galt schließlich nicht für ihn. In seinem Brief hatte Marthelm versichert, dass die Logenbrüder ihm helfen würden, wenn er sie darum bat.
Während sich Linda noch mit gerunzelter Stirn umschaute, drückte Marian auf den Klingelknopf unter dem Schild. In einiger Entfernung ertönte ein dunkler Gong, dann geschah längere Zeit erst mal gar nichts.
Hinter dem Haus, von hier aus mehr zu spüren als zu sehen, erhob sich die dunkle Masse des Bannwaldes. Die Bäume knarrten im leichten Windzug. Einige der älteren Hegendahl’schen Verwandten hatten gestern haarsträubende Geschichten von diesem Wald erzählt. Laut Großonkel Gertholt, der in Croplin aufgewachsen war, hatte sich in seiner Kindheit einmal ein Nachbarsjunge in dem Dickicht verirrt. Die Leute hatten Suchteams in den Wald entsandt, doch das Kind blieb unauffindbar. Wochen später war weit draußen im Moor ein Junge aufgegriffen worden – halb verhungert, nur mit ein paar Lumpen bekleidet, mit Kratz- und Bisswunden bedeckt. Er konnte nicht sprechen, sondern stieß lediglich eine Art Wolfsheulen aus. War es derselbe Junge, der sich einige Zeit vorher im Wald verirrt hatte? Das blieb unklar, jedenfalls in Onkel Gertholts Erzählung. Der »Wolfsjunge« sei bald wieder aus Croplin verschwunden, so endete sein Bericht, und die Umzäunung des Waldes, der im Volksmund auch »Hexenholz« hieß, sei wieder mal ausgebessert und verstärkt worden.
Während Marian an diese und andere Geschichten vom Cropliner Bannwald dachte, ging die Luke im Gutshaus auf. Ein alter Mann trat heraus und eilte auf das Tor zu. Er trug einen altmodischen schwarzen Anzug. Seine Haare waren silbergrau und so dünn, dass man den Schädel hindurchschimmern sah. Aber seine Bewegungen waren so beschwingt, als ob er noch jung an Jahren wäre.
Vor dem Tor blieb er stehen und
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