Gößling, Andreas
sah sie durch das Gitter an. Seine Augen in dem furchigen Gesicht schienen vor Energie zu funkeln. Doch er machte keine Anstalten, das Tor zu öffnen. »Sie wünschen?«, fragte er und schaute dabei nur Marian an.
Linda nahm sich sichtlich zusammen. Sie nannte ihren und Marians Namen. »Wir möchten mit Dr. Godobert sprechen«, sagte sie. »Es geht um das Testament unseres Verwandten Marthelm Hegendahl. Dem ja wohl dieses Haus gehört«, fügte sie in gereiztem Tonfall hinzu.
Der alte Mann streifte sie mit einem raschen Blick und wandte sich dann wieder an Marian. »Bedaure«, sagte er mit leiser, gleichmäßiger Stimme, »Frauen haben keinen Zutritt.« Linda stieß ein empörtes Schnaufen aus, aber der Mann im schwarzen Anzug ließ sie nicht zu Wort kommen. »Nach altem Gesetz«, sagte er, »dürfen Frauen, Krüppel und Sklaven niemals eine Freimaurerloge betreten. Ich bin der Bruder Türsteher und habe dafür zu sorgen, dass dieses Gesetz beachtet wird. Aber unser Meister wird sich gerne mit Ihnen an einem profanen Ort treffen, wenn Sie dies wünschen, gnädige Frau.«
Ein fast unmerkliches Lächeln flog über sein Gesicht. Obwohl seine Worte an Linda gerichtet waren, sah er weiterhin nur Marian an. »Lassen Sie mir einfach Ihre Telefonnummer da. Dr. Godobert wird Sie anrufen, um ein Treffen mit Ihnen zu vereinbaren.«
Marian schaute seine Mutter an, der es anscheinend die Sprache verschlagen hatte. Frauen, Krüppel und Sklaven – das war allerdings ziemlich krass. Linda hatte rote Flecken im Gesicht und starrte den Bruder Türsteher so wütend an, als ob sie ihm gleich an die Kehle gehen wollte. Marian glaubte, in ihm einen der sechs Sargträger von gestern wiederzuerkennen, aber er war sich nicht sicher – irgendwie sahen sich diese alten Männer in ihren schwarzen Anzügen alle zum Verwechseln ähnlich.
»Gute Idee«, sagte er schnell. »Gib ihm doch deine Nummer, dann ruft dich Godobert zurück.« Er nickte Linda zu und sah sie aus großen Augen auffordernd an.
Seine Mutter tastete fahrig über ihr Haar. Obwohl ihre Frisur tadellos saß, begann sie sie umständlich zu ordnen. Mit der einen Hand straffte sie ihren Pferdeschwanz, mit der anderen korrigierte sie den Sitz des Gummirings, der ihre Haare zusammenhielt.
Der Bruder Türsteher beobachtete kurz und mit offensichtlicher Missbilligung diese weibliche Prozedur, dann wandte er sich wieder Marian zu. »Was dich angeht, du bist uns jederzeit willkommen, Marian Hegendahl«, sagte er feierlich. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden.« Er tat, als ob er sich umdrehen und zum Haus zurückgehen würde.
»Herrje, so warten Sie doch, Sie Bruder!« Linda ließ endlich ihre Frisur in Ruhe und klappte ihre Handtasche auf. Sie holte den Taschenkalender hervor, schrieb zum zweiten Mal an diesem Morgen ihre Handynummer auf ein freies Blatt und riss es heraus.
Mit einem höflichen Lächeln hielt der alte Mann ihr seine Hand hin, um das Blatt entgegenzunehmen. Aber Linda würdigte ihn keines Blickes. Sie faltete den Zettel zusammen und reichte ihn Marian. »Gib du ihm das Ding«, sagte sie, »sonst kriegt er noch die Krise, falls er zufällig eine Frauenhand berührt.«
Marian reichte den Zettel durch das Gitter und verabschiedete sich hastig vom Bruder Türsteher. So schnell wie möglich dirigierte er seine Mutter vom Tor der Loge fort. Einmal in Fahrt gekommen, würde sie unermüdlich weiterschimpfen, das wusste er aus Erfahrung.
Er hakte sich sogar bei ihr unter, um sie rasch außer Hörweite zu ziehen. Linda zeterte über »diese zahnlosen Macker« und »durchgedrehten Weiberfeinde«, und Marian gab ihr im Stillen sogar recht – jedenfalls zum Teil. Wofür sollte es gut sein, dass die Freimaurer keine Frauen in ihren Reihen zuließen? Okay, das war eigentlich leicht zu verstehen – bei manchen Sachen konnten Mädels und Mütter ziemlich nerven. Aber »Frauen, Sklaven und Krüppel« auf eine Stufe zu stellen, das hörte sich schon irgendwie krank an.
Während Marian und seine schimpfende Mutter in der Mittagssonne zurück in Richtung Kirchplatz gingen, klingelte Lindas Handy. Sie wühlte in ihrer Handtasche, fand irgendwann ihr Telefon und klappte es auf. »Gut, dann also bis gleich«, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme und klappte es wieder zu.
In seinem Rücken spürte Marian noch immer die drückende Masse des ehemals Hegendahl’schen Anwesens – wie eine Faust zwischen seinen Schulterblättern.
»Das waren diese Brüder«, erklärte Linda.
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