Gößling, Andreas
versteht doch überhaupt nicht, was sie da für ein Spiel mit ihm treiben! Und damit nicht genug: Sein Gewissen – oder was es sein mochte – beschwor Julian, die Versammlung schnellstmöglich zu verlassen.
Aber weshalb denn, bei allen Aposteln?
Weil Zenturius sonst erkennen wird, antwortete jene innere Stimme, dass du selbst ein Verräter bist.
Das ist doch Unsinn!, empörte sich der Famulus. Er hatte sich ja überhaupt nichts zuschulden kommen lassen – außer vielleicht, dass er manchmal im Apothekerlabor mit offenen Augen vor sich hin träumte, anstatt unaufhörlich Kräuter und Wurzeln zu zerhacken.
Verzweifelt versuchte Marian, den bockigen Famulus zum Aufbruch zu bewegen. Sie mussten von hier verschwinden, bevor dieser Zenturius ihm auf die Schliche kam. Auch der Großmächtige Meister wurde ihm immer unheimlicher – mit seinem durchdringenden Blick schien er jedermann bis auf den Grund der Seele schauen zu können. Und was würde er dort erblicken, sowie sein Blick einmal etwas länger auf dem Raben Julian ruhte? Natürlich ihn, Marian – schließlich hatte er sich in Juli ans Bewusstsein so ähnlich eingenistet wie dieser Zenturius im Geist des armen Odilo. Mit dem Unterschied allerdings, dass Marian nicht die mindeste Kontrolle über Julians Denken erringen konnte.
Der Famulus nämlich atmete nur tief ein und aus wie jemand, der sich zu beruhigen versuchte. Sein Atem ging schneller als sonst, sein Herz klopfte wie verrückt, aber äußerlich blieb er ganz gelassen. An die Mauer neben der Gewölbetür gelehnt, sah er zu, wie der Großmächtige Meister Odilo zurück in den magischen Kreis befahl. Der Ring der Lichtträger mit den rauchenden Fackeln schloss sich wieder, und Meister Justus verkündete: »Nun, meine Brüder, werde ich den zweiten Geist herbeizwingen. Er wird desgleichen in Odilos Leib einfahren – und mit Zenturius um die Vorherrschaft kämpfen.«
Sein Blick glitt über die Versammelten und blieb auf Julian haften. Der Famulus erstarrte, und Marian wünschte sich nichts sehnlicher, als auf der Stelle in einem tiefen Moorloch zu versinken. Oh mein Gott, dachte er, Justus hat mich entdeckt!
Der Großmächtige Meister hob die Arme und rief einen weiteren Zwingspruch, doch Marian achtete kaum darauf. Ein Satz aus Marthelms Brief war ihm urplötzlich in den Sinn gekommen: »Lerne das Talmibro zu gebrauchen, und Du wirst begreifen, warum gerade wir, die männliche Linie der Hegendahls, dazu verpflichtet sind, den Fluch zu brechen.«
Weil dieser Fluch, dachte er mit eisigem Entsetzen, durch Justus Hegendahl, unseren Ururahnen, in die Welt gekommen ist. Oder vielmehr: weil Meister Justus in zwei Wochen die furchtbaren G*L*M erschaffen würde – wenn er, Marian, nicht doch noch ein Mittel fand, um ihn daran zu hindern.
Aber danach sah es im Moment wirklich nicht aus. Ganz im Gegenteil: Der Großmächtige Meister schrie dort vorn im magischen Zirkel seinen Zwingspruch – und ihn, Marian, hatte er höchstwahrscheinlich schon entdeckt. Nun riss er die Arme senkrecht in die Höhe. Abermals tanzte eine Lichtwolke über der Feuersäule und schwebte zu Odilo herüber – feuerrot diesmal, von schwarzen Schwaden umwabert und wieder mit einem tanzenden blauen Flämmchen darauf.
Die Wolke drehte sich wirbelnd um sich selbst – und verschwand hinter Odilos Stirn. Fast im selben Augenblick ging mit ihm eine weitere Verwandlung vor. Eben noch wirkte seine Haltung herrisch, sein Blick ruhig und durchdringend – jetzt aber stieß er einen zornigen Schrei aus und brach mit gesenktem Kopf aus dem Kreis der Lichtträger hervor.
Die Wächter taumelten zurück. Angstvolle Rufe wurden laut. Odilo hob den Kopf und seine Augen waren feuerrot. Er schnaubte wie ein wütender Stier und Fun ken stoben unter seinen Lidern hervor. Mit zwei gewaltigen Sprüngen war er mitten unter den Wächtern. »Ich bin Arestios, der mächtige Dämon des Kampfes«, schrie er mit einer Stimme, die wie Donner klang. »Wer von euch wagt es, mich herauszufordern?«
Die Männer wichen noch weiter zurück. Odilo stieß ein Lachen aus, das die Wände erzittern ließ. Aus dem Stand schnellte er in die Höhe, sodass sein Kopf beinahe gegen die Decke prallte. Flammen schossen aus seinen Augen, als er zu einem der geborstenen Steinsärge sprang, einen gewaltigen Knochen herausriss und wie einen Säbel durch die Luft wirbelte. Dabei rannte er hin und her, so schnell, dass man mit den Augen kaum folgen konnte. Wer einen solchen Geist in
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