Gößling, Andreas
zu sprechen und rannte beim nichtigsten Anlass schreiend davon. Auch sein Körper war auf einer kindlichen Stufe stehengeblieben: hoch aufgeschossen, aber dürr und schmal. Das magere Gesicht unter den struppigen Haaren war bartlos wie bei einem zehnjährigen Knaben.
Der Großmächtige Meister verwendete Odilo zuweilen als Medium, um mit den Geistern in Verbindung zu tre ten. Heute jedoch hatte er mit ihm ein sehr viel kühneres Experiment vor: Gleich zwei Dämonen sollten sich seiner bemächtigen. Odilos Persönlichkeit würde sich dadurch ein ums andere Mal vollkommen ändern – je nachdem, welcher Geist gerade die Macht über ihn besaß. So hatte es Meister Justus jedenfalls bei der letzten Sitzung ihrer Bruderschaft angekündigt. Und seitdem hatte Julian die Stunden gezählt, bis es endlich wieder Dienstagabend war und er miterleben konnte, wie der Großmächtige Meister den Geistern befahl, in den Leib des armen Freundes zu fahren.
Odilo wurde hereingeführt, die beiden Wächter hielten ihn an den Armen. Er sträubte sich zaghaft, wimmerte und warf ängstliche Blicke auf die Versammlung. Dabei musste er das alles hier doch zur Genüge kennen: den kahlen, düsteren Gewölberaum mit den geborstenen Steinsarkophagen entlang der Wände. Die ernst dreinblickenden Männer, fast alle in dunklen Gewändern. Vorn die Reihe der Lichtträger, denen Meister Justus nun ein Zeichen gab.
Daraufhin bildeten die sechs Männer einen zweiten Ring um den schwarzen Kreis, in dem der Großmächtige Meister zwischen den magischen Zeichen und der Schale mit dem Salz des roten Sonnenlöwen stand. Jeder Lichtträger hielt eine Pechfackel in der Hand, von der flackerndes Licht und schwarze Qualmschwaden ausgingen. Als Odilo herbeigeführt wurde, öffneten sie ihren Ring, um ihn hereinzulassen – dann schloss sich der Kreis wieder um den Großmächtigen Meister und den armen Freund.
Odilo war in das knöchellange weiße Hemd gehüllt, das ihm die Brüder immer überzogen, wenn sie ihn in die Loge führten. Aber auch diese vertraute Einzelheit schien nicht geeignet, den bedauernswerten Idioten zu beruhigen – im Gegenteil. Er gebärdete sich jedes Mal, als ob er am Spieß gebraten werden sollte.
Doch kaum stand er im magischen Kreis, da wurde er ruhig. Meister Justus legte einen Arm um Odilos schmächtige Schultern. Mit der anderen Hand vollführte er eine schnörkelreiche Gebärde vor Odilos Gesicht. Aus weit aufgerissenen Augen sah der »arme Freund« zu, wie sich die Hand des Großmächtigen Meisters langsam be wegte. Sein ganzer Körper wiegte sich im gleichen Takt hin und her.
Atemlose Stille. Nur das Zischen der Fackeln und gelegentliches Seufzen war noch zu hören.
Der Großmächtige Meister nickte seinem Obersten Lichtträger zu. Der senkte seine Fackel zur Schale hinab – und ein Feuerturm schoss fauchend daraus hervor, beina he so hoch wie Odilo. Der stand direkt neben der glühenden Säule, doch mit einem leeren Gesicht, als ob er mit offenen Augen schliefe.
»Die Zunge des Sonnenlöwen!«, rief Meister Justus aus. »Flammenturm und Zwingspruch zusammen rufen den Geist herbei!«
18
Julian bekam allmählich Krämpfe in Zehen und Waden, so angestrengt reckte und streckte er sich, um einigermaßen mitzubekommen, was da vorn passierte. Einmal war er sogar hinter den anderen Brüdern in die Höhe gehüpft. Aber als er wieder auf dem Steinboden aufkam, riefen seine Holzsohlen ein so furchtbares Gepolter hervor, dass mehrere Logenbrüder mit zornigen Gesichtern zu ihm herumfuhren. Am liebsten wäre er in der Erde versunken oder hätte sich in einem der Steinsärge verkrochen. Deren Deckel waren teilweise zerbrochen, sodass man sehen konnte, was sich darin befand: Totenschädel, durcheinandergeworfene Knochen in einer Schicht aus Erde und Staub. Noch ehe dieses Jahr zu Ende ging, so hatte Meister Justus verkündet, würde er vor ihren Augen einen dieser Toten zum Leben erwecken.
Jetzt jedoch hob er seine Arme und zwang den ersten Geist zu ihnen hinab. »Chiley, Sidola, Asomit …« Die Mauern dröhnten unter der mächtigen Stimme des Magiers. Gleich darauf erhob sich ein Brausen, wurde lauter und lauter, erfüllte bald schon das Gewölbe – so donnernd und hallend, dass einige Brüder in den Reihen vor Julian ihre Hände auf die Ohren pressten.
Der Famulus dagegen sperrte Augen und Ohren so weit wie irgend möglich auf. Über der Feuersäule im magischen Kreis schwebte eine kleine Wolke aus Dampf und Licht. Sie war von
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