Gößling, Andreas
der linken Seitenwand des Hotels. Von hier aus hatte man einen guten Blick über den sonnenbeschienenen Kirchplatz. Marian ließ seinen Blick zum Brunnen hinüberschweifen.
Julian ist ein mutiger Kerl, dachte er. Tollkühn sogar und außerdem ziemlich wissbegierig, was die magischen Geheimnisse angeht. Aber aus seinen Büchern voll alchimistischer Formeln und mysteriöser Beschreibungen scheint er genauso wenig schlau zu werden wie ich aus den Wälzern in der Logenbibliothek. Diese Bücher voller Geheimwissen waren natürlich mit Absicht so verfasst worden, dass nur Eingeweihte die Offenbarungen entschlüsseln konnten.
Wenn ich nur jemanden um Rat fragen könnte, dachte er dann. Jemanden, der den nötigen Durchblick hatte, am besten einen Erleuchteten wie Marthelm. Aber der war ja nun mal tot und begraben.
Wer kam also in Frage? Linda? Ausgeschlossen. Die würde ihm nur wieder vorwerfen, dass er zu viele Voodoofilme anschaute und Bücher über Magie las. Wobei sie das alles sowieso für Fantasterei und Aberglauben hielt. Außerdem hatte sie gestern Abend verkündet, dass sie heute Vormittag zu einem Baggersee in der Nähe fah ren wollte, »um ein wenig Urlaub zu haben«. Sie hatte etwas beleidigt getan, weil er sie nicht begleiten wollte. »Aber wir sind ja nicht nur zum Urlaubmachen hier«, hatte er eingewendet. »Wenn ich mich mit den Logenleuten anfreunde, kann das nur gut für uns sein – vielleicht rücken sie ja doch noch was von Marthelms Erbschaft raus.«
Wer also kam in Frage? In Gedanken ging er seine Freunde in Starnberg durch. Da gab es schon ein paar Kumpels, mit denen man auch mal über was Ernsteres reden konnte. Über Stress mit den Eltern oder darüber, was man später studieren, arbeiten, erreichen wollte. Aber über das hier? Er zog sogar sein Handy aus der Tasche und flipperte seine Kontaktliste durch. Max, das Surfgenie, Lars, der PC-Nerd, Tony, der Film-noir-Freak …
Keine Chance. Marian schüttelte den Kopf. Der Wirt, der ihn eben nach weiteren Wünschen fragen wollte, runzelte die Tausendfüßler-Brauen und kehrte in die Gaststube zurück.
Dann vielleicht Daddy Chris? Aber das brachte ja erst recht nichts. Christian würde sich total über seinen Anruf freuen, na klar. Bestimmt wäre er auch sofort bereit, mit ihm eine solche verrückte Geschichte weiterzuspinnen. Wahnsinnsidee, Marian, würde er ins Telefon rufen – eine Zeitmaschine, die dich zwischen dem Rokoko und der Postmoderne hin und her schießt. Und dann dieser urtümliche Fluch, den du aufheben musst, während der Countdown zum Untergang der Menschheit bereits läuft. Klasse Stoff, Junge.
Das Problem war nur: Daddy Chris würde überhaupt nicht begreifen, dass das hier nicht einfach so eine ausgedachte Geschichte war. Sondern allerfinsterste Wirklichkeit. Na logisch, Marian, würde sein Vater sagen, nichts ist realer als unsere Träume. Aber darum ging es jetzt wirklich nicht – und deshalb hatte es auch nicht den geringsten Sinn, Christian anzurufen. Ganz abgesehen davon, dass der sich furchtbar aufregen würde, wenn er hörte, dass Marthelm doch noch mit Marian in Verbindung getreten war. Sozusagen nach seinem Ableben und aus dem Grab heraus.
Die Logenbrüder? Davor hatte Marthelm ihn ausdrücklich gewarnt. Vom Talmibro und den G*L*M wussten sie nichts und durften sie auch nichts erfahren.
Und was war mit Hanno Bußnitz? An den hatte Marian seit gestern immer wieder mal gedacht – der Professor war sein »letzter Trumpf im Strumpf«, wie Opa Johann sich auszudrücken pflegte. Allerdings ein Trumpf von ziemlich fragwürdigem Wert: Hanno Bußnitz beschäftigte sich mit Magie und war ein Freund von Marthelm gewesen – der Einzige sogar, der außer den Logenbrüdern etwas vererbt bekommen hatte. Aber er war nicht zur Beerdigung erschienen, was nicht gerade auf ein inniges Verhältnis zu den Freimaurern schließen ließ. Gut möglich also, dass der Professor gerade von Dämonenbeschwörung und ähnlich dunklem Zauber wenig hielt.
Wenn er keinen anderen Ausweg mehr wusste, be schloss Marian, würde er sich an Hanno Bußnitz wenden – aber im Moment konnte er ihn sowieso nicht so einfach besuchen. Der Professor wohnte ja ein ganzes Stück außerhalb von Croplin. Die Autowerkstatt hatte zwar ihren alten Golf wieder fahrtüchtig gemacht und zum Hotel gebracht, aber damit war Linda ja heute zu ihrem Badesee gefahren. Was soll’s, sagte sich Marian – über kurz oder lang würden der Professor und er sich hier doch be
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