Gößling, Andreas
– da suchte Julian mit einem Satz Deckung hinter einem Torpfosten.
»Hört, ihr Leut’, und lasst euch sagen«, rief der Nachtwächter in behäbigem Singsang, »Gottes Uhr hat zwei geschlagen …«
Der schaukelnde Lichtkegel entfernte sich langsam wieder. Der Sprechgesang des Wächters wurde leiser, Stille und Dunkelheit kehrten zurück. Der Famulus aber harrte noch immer in seinem Versteck aus. Anscheinend war es Lehrjungen wie ihm nicht gestattet, nachts in der Stadt herumzulaufen. Also wartete er lieber ab, bis der Nachtwächter weit genug weg war.
Das ist meine Chance, dachte Marian und begann zu murmeln: »Bormilatus … Bormilatus … Bormilatus.« Seine Arme zitterten vor Anstrengung – sehr lange konnte er das Talmibro nicht mehr auseinanderziehen. Na, mach schon, Julian, dachte er. Und murmelte keuchend immer weiter: »Bormilatus … Bormilatus.«
Der Famulus schien in sich hineinzuhorchen. Marian konnte sein Gesicht nicht sehen, doch seine ganze Haltung drückte Erstaunen aus. Dann endlich stimmte er in das Gemurmel ein : »Bormilatus … Bormilatus.«
Als er im nächsten Moment hinter dem Torpfosten hervorkam, fühlte es sich für Marian schon fast so an, als ob er auf seinen eigenen Füßen weiterliefe. Die grabesstille Gas se hinab, nur leider auf diesen elenden Holzsohlen, die ein leises Klappern von sich gaben, auch wenn Julian sie im Gehen mit verkrampften Zehen an die Fußsohlen presste.
Wo zum Teufel gehst du hin, Famulus?
Wieder schien Julian in sich hineinzuhorchen. Seine Schritte wurden langsamer, dann schüttelte er den Kopf und beschleunigte erneut.
Ich müsste längst im Stroh liegen, dachte er dabei. Aber wie soll man denn schlafen können – während der arme Piet von seinem Lehrherrn vielleicht schon durchgeprügelt, aus dem Haus gejagt, in den Kerker geworfen worden ist? Um drei in der Früh fängt für Piet die Arbeit an – Teig kneten, Brötchen und Brotlaibe backen, dann will ich versuchen, ob ich ihn hinter der Backstube abpassen kann. Und bis dahin …
Er trabte um die Ecke, in eine noch schmalere, noch dunklere Gasse.
Bis dahin – was? Ja, denk doch endlich weiter, feuerte Marian ihn an, aber der Famulus war mit seinen Gedan ken schon wieder bei seinem Freund. Schrecklich wär’s mir, sagte er sich, wenn Piet dem Bäcker in die Schatulle gelangt hätte – aber kaum weniger furchtbar, wenn Zenturius falsch geweissagt hätte. Denn das hieße doch, dass er überhaupt keine prophetischen Kräfte hätte, gar kein mächtiger Dämon wäre, sondern …
Auch diese Überlegung führte Julian nicht weiter – aus Müdigkeit oder vielleicht auch, weil er sich vor der Schlussfolgerung fürchtete. An seiner Stelle brachte aber Marian den Gedanken zu Ende: Wenn Zenturius gar nicht so hellsichtig war, wie es gestern Abend den Anschein hatte, dann war Meister Justus womöglich auch nicht ganz so mächtig, wie er seinen Brüdern vorzugaukeln beliebte?
Wieder geriet der Famulus ins Stolpern, fuhr sich sogar mit der flachen Hand übers Gesicht, als wollte er sich von Spinnweben befreien. »Das werden wir ja gleich sehen«, flüsterte er vor sich hin und rannte auf klappernden Sohlen weiter durch die Nacht.
Als er am Ende der dunklen Gasse angelangt war, erkannte Marian, wo sie sich befanden. Die Gasse mündete in eine breitere Straße, die genauso still und dunkel dalag wie die ganze Stadt. Auf der anderen Seite aber erhob sich das Hegendahl’sche Gutshaus, dahinter die ungeheure Masse des Bannwaldes, schwärzer noch als die Nacht. Obwohl keinerlei Wind wehte, ging von dem Hexenholz ein Knarren und Ächzen aus, als seufzten dort unzählige verlorene Seelen.
22
Gerade als der Famulus die Straße überquerte, riss die Wolkendecke auf und der Mond goss sein Geisterlicht über Dächer und Wipfel. Hätte in diesem Moment ein schlafloser Nachbar aus dem Fenster geschaut, so hätte er genauestens mit ansehen können, wie ein magerer Bursche in bunt verflecktem Hemd und kaum weniger verschmutzten Hosen katzengleich an den Gitterstäben des Hegendahl’schen Hoftors emporkletterte. Wie der dreiste Eindringling, oben angekommen, vorsichtig erst ein Bein, dann das zweite über die speerspitzen Eisendornen hob und mit einem kühnen Satz auf der anderen Seite heruntersprang. Als er unten aufkam, riefen seine Holzsohlen allerdings ein so donnerndes Poltern hervor, dass in der Umgebung mehrere Hunde anschlugen. Dafür schien das Ächzen und Seufzen vom Wald her für einige Augenblicke
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