Gößling, Andreas
auszusetzen – oder war es der Schrecken, der Julian und Marian für alles andere taub werden ließ?
Wie auch immer – nach einigen Sekunden lähmenden Entsetzens rappelte sich der Famulus wieder auf. Er zog seine Schuhe aus und versteckte sie neben dem Torpfosten. Dort waren sie allerdings im Mondlicht gut zu sehen, wenn auch nur von der Hofseite her. Barfuß schlich er über den staubigen Hof auf das Haus zu.
Aus der Nähe betrachtet, sah das Hegendahl’sche Gutshaus damals noch recht stattlich und gepflegt aus. Gleichwohl wirkte es mit seiner dunklen Steinfassade, dem tief herabgezogenen Reetdach und der lukenschmalen Haustür alles andere als einladend. Der Famulus versuchte denn auch gar nicht erst, durch diese mit Eisen bändern beschlagene Tür ins Haus zu gelangen – er drehte nach links ab und schlich in geduckter Haltung an der Vorderfront entlang. Allem Anschein nach hoffte er, durch eine leichter zugängliche Seiten- oder Hintertür ins Haus zu gelangen.
Zu welchem Zweck nur? Was um Himmels willen hatte Julian vor? Viel zu gefährlich, lass es sein!, dachte Marian, doch der Famulus schenkte ihm keinerlei Beachtung. Ab und zu schien er Marian ja zumindest wie eine i nnere Stimme wahrzunehmen. Doch wenn er seine ganze Willenskraft so wie jetzt auf ein einziges Ziel konzentrierte, dann konnte Marian in seinem Inneren so viel schreien und zetern, wie er wollte.
Aber was Julian da vorhatte, war doch der reine Wahnsinn! Meister Godobert und die heutigen Freimaurer waren ja höchstwahrscheinlich viel harmlosere Zeitgenossen als die Logenbrüder zu Julians Zeit. Und doch hatten sogar sie Marian streng verboten, auf eigene Faust im Haus herumzustreifen – zweifellos, damit er von ihren Geheimnissen nichts mitbekam. Wie würde da erst Meister Justus reagieren, wenn er seinen ungetreuen Raben bei sich zu Hause entdeckte – als Einbrecher, der ihm tief in der Nacht hinterherspionierte!
Unterdessen war Julian zur Rückseite des Hauses gelangt. Hier gab es einen kleinen Hinterhof, ähnlich wie bei Hanno Bußnitz – ein Rechteck aus halb im Boden versunkenen Steinplatten, dahinter begann schon der Wald. Der Himmel war jetzt sternenklar, doch das Dick icht sog jeden Lichtschein auf wie ein riesiger schwarzer Schwamm. Nur ein paar matt spiegelnde Flecken in der Rückfront des Hegendahl’schen Gutshauses ließen erahnen, dass dort Fenster in die Mauer eingelassen waren. Jeweils drei nebeneinander im ersten Stock und im Erdgeschoss – und drei weitere, viel kleinere knapp über dem Boden.
Kellerluken, dachte Marian. Der Famulus schlich von einer Luke zur nächsten, drückte und zog an Rahmen und Laden herum, aber sie schienen alle fest verschlossen. Außerdem waren sie so schmal, dass man kaum hindurchkriechen konnte – selbst ein so flatterdünnes Hemd wie Julian.
Nichts wie weg von hier, beschwor Marian den Famulus aufs Neue. Du kannst doch nicht einfach so ein Fenster einschmeißen – das merkt Meister Justus doch spätestens morgen früh! Mit seinen magischen Fähigkeiten bringt er im Handumdrehen heraus, wer es gewagt hat, bei ihm einzusteigen – und dann gnade dir Gott, Julian Hallthau!
Vor lauter Aufregung drückte er sich fast schon so altertümlich aus wie der Famulus, aber das half auch nichts. Halte ein, Julian!, dachte Marian, doch der Famulus ruckte und drückte nur immer weiter am mittleren Kellerfenster herum. Er kauerte auf Knien und Fußzehen im Dreck, schnaufte und ächzte – und dann schwang mit einem noch viel lauteren Stöhnen die Luke vor ihm tatsächlich auf.
In seinem Rücken schrie ein Nachtvogel Alarm. Doch da war Julian mit den Beinen voran schon durch das Fensterloch geglitten und spürte im nächsten Augenblick glatten, kalten Steinboden unter seinen Füßen.
Die Dunkelheit hier drin schien ihm so dick und schwer wie Stein. Vor Aufregung bekam er mit einem Mal ganz zittrige Knie. Aber da stellte er sich rasch vor, dass der Kriegsdämon Arestios in ihn fahren würde – und gleich kehrten Mut und Kraft in seinen Geist und seine Glieder zurück.
Ganz still stand er nun da und lauschte in die Dunkelheit. Wie aus weiter Ferne vernahm er unverständliche Rufe – so dumpf und hallend, als ob der Rufer noch tiefer unter der Erde wäre als er selbst.
Es muss also noch einen zweiten Keller geben, sagte sich Julian. Er streckte einen Arm vor sich in die Dunkelheit und ging langsam, mit tastenden Schritten, in die Richtung, aus der die Rufe kamen.
Alte Gutshäuser wie das
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