Gößling, Andreas
hatten sie ihren Motor ausgeschaltet, sodass sie fast lautlos auf das Ufer zutrieben. Es waren ganz junge Männer, eher noch Jungs, dachte Carmen, mit schwarzen Haaren, nackten, sehnigen Oberkörpern und dunkelbrauner Haut.
Auf Drängen von Gomez hatte Maria inzwischen das kleine Bündel geöffnet. Unter dem schlammfarbenen Tuch kam etwas Gelbes, Längliches zum Vorschein. Eine Skulptur, eine kleine Schale oder vielleicht auch eine Maske – Carmen konnte es nicht erkennen, der Mann verdeckte ihr größtenteils die Sicht. Jedenfalls war dieses Ding kaum größer als Marias geöffnete Hand und von einem warmen, fast leuchtenden Gelb. Nicht goldgelb und schon gar nicht zitronengelb. Eher so wie die Maiskolben, die oben auf der Plaza in gewaltigen Haufen aufgetürmt lagen.
Und dann fuhr direkt hinter Maria mit einem Knirschen das Boot ins Uferschilf. Gomez zuckte zusammen und spähte über Marias Schulter hinweg zu den jungen Männern hin, die jetzt zornig aussahen. Er breitete die Arme aus, als ob er die vier beschwichtigen wollte, und ging langsam auf sie zu. Carmen konnte einen kurzen Blick auf das Ding in Marias Hand werfen – tatsächlich eine Maske, und sie wirkte mindestens so finster wie die Jungs, die jetzt alle vier aus dem Boot sprangen.
Blitzschnell wickelte Maria das schlammfarbene Tuch um die Maske und warf Carmen das Bündel zu. Es ging so schnell, dass Carmen ihren Augen kaum traute. Aber es gab keinen Zweifel – ihre Finger hatten zugeschnappt, sie hielt das Bündel in der Hand. Es war überraschend schwer und sonnenwarm. Durch einen Ritz im Tuch starrten die Augen der Maske hervor. Also hatte Maria die ganze Zeit gewusst, dass sie hier im Mauerspalt stand?
Der Mann im hellen Anzug stand jetzt mit geballten Fäusten vor den Jungs aus dem Boot. Rasend schnell redete er auf sie ein, in einer Sprache, die Carmen noch nie gehört hatte. Zwei von ihnen fassten ihn links und rechts bei den Armen und im nächsten Augenblick sackte Gomez in sich zusammen. Der Kopf fiel ihm auf die Brust. Sein ganzer Körper schien nachgiebig zu werden wie bei einer Gummipuppe. Aber sie hielten ihn weiter an den Armen fest und so blieb er zwischen ihnen stehen, leise schwankend wie ein Betrunkener.
Auch Maria hatte sich inzwischen umgewandt. Begriff sie überhaupt, was passiert war und dass sie in Gefahr schwebte? Hierher, Maria!, wollte Carmen rufen und brachte keinen Laut heraus. Die beiden anderen Jungs waren mit einem Sprung bei ihr, geschmeidig wie Jaguare. Sie trugen weiße Hosen mit einem Muster in lebhaften Farben, das Carmen auf einmal an die Musikanten vom Isarufer denken ließ. Einen halben Herzschlag später hatten sie auch Maria bei den Armen gepackt und ihr Kopf sackte nach vorn.
Carmen vergaß zu atmen. Die beiden hoben Maria bei den Armen an und trugen sie aufrecht zum Boot. Ihre Kumpane hievten den Mann im hellen Anzug an Bord. Im nächsten Augenblick raste das Boot schon wieder mit heulendem Motor über den See. Zwischen den vier Jungs saßen Maria und Gomez, die Schultern aneinander gelehnt, und ihre Köpfe schaukelten im Rhythmus der Wellen.
5
Als plötzlich ein Pfiff in ihrem Rücken ertönte, schreckte Carmen aus ihrer Erstarrung auf. Hinter ihr kam jemand durch den Mauerspalt, ein Mann mit seinem Hund. Die maisgelbe Maske in der Hand, lief sie die paar Schritte weiter bis zum Ufer, wo eben noch Maria und Gomez gestanden hatten.
Das große Boot war nur noch ein ferner Punkt auf der Wasserfläche. Der Himmel hatte sich zugezogen und dunkle Wolken spiegelten sich im See. Wie betäubt sah Carmen nach links und rechts. In der Hand hielt sie immer noch die maisgelbe Maske. Und vor ihr im Schilf lag Gómez’ Sombrero, neben seinem Kahn, der an einem Pflock im Wasser festgebunden war. Verzweifelt versuchte sie zu überlegen. Aber in ihrem Kopf war nur ein Wirrwarr von zerfetzten Gedanken und Bildern.
Was um Himmels willen sollte sie bloß tun? Zur Polizei laufen und die Entführung ihrer Mutter melden? In diesen Kahn springen und dem großen Boot folgen, unabsehbar weit hinaus auf den See?
Verrückter Einfall! Sie wusste ja nicht mal, wie man so ein Motorboot startete oder steuerte. Und je länger sie darüber nachdachte, desto seltsamer kam ihr das Ganze vor. Ihre Mutter vor ihren eigenen Augen verschleppt? So etwas passierte doch höchstens in einem Kinofilm. Und dann auch noch auf so unklare, unheimliche Weise entführt! Was hatten diese Typen mit Maria und Gomez gemacht, dass sie von einem
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