Gößling, Andreas
Moment zum anderen willenlos wurden? Ihnen ein Betäubungsgift in den Arm gespritzt? Sie irgendwie eingeschüchtert, sodass sie mitgekommen waren, ohne sich zu wehren?
Oder war alles ganz anders gewesen – waren Maria und Gomez vielleicht sogar freiwillig mitgefahren? Hatte sie in ihrer Aufregung die Szene völlig missverstanden?
Hinter sich hörte Carmen ein lautes Hecheln und fuhr herum. Es war ein riesengroßer, zottiger schwarzer Hund, der eben aus dem Pfad zwischen den Häusern hervortrottete. Dahinter kam ein uralter Mann zum Vorschein. Silbergraue Haare hingen ihm bis auf die Schultern. Seltsamerweise war er nur mit einem langen weißen Hemd bekleidet, das ihm bis zu den Knien reichte, wie ein altmodisches Nachthemd. Sein Gesicht war mit Runzeln bedeckt, doch seine Augen schienen ganz klar, wie bei einem viel jüngeren Mann.
Rasch wickelte sie die Maske in das schmutzige Tuch und schob das Bündel in ihre Handtasche. Der Hund lief schnüffelnd am Ufer entlang, ohne sie zu beachten. Auf einen Stock gestützt, blieb der Alte vor dem Mauerspalt stehen und rief Carmen etwas zu. Es klang überhaupt nicht wie eine der Sprachen, die sie kannte oder zumindest schon mal gehört hatte. Sie hätte nicht einmal sagen können, ob er etwas gefragt, sie beschimpft oder ihr vielleicht ein Scherzwort zugerufen hatte. Sein Gesichtsausdruck blieb unverändert. Starr blickten seine schwarzen Augen sie an.
»Ich verstehe nicht«, rief sie auf Spanisch zurück und bückte sich, um den Sombrero aufzuheben. Im selben Moment stieß der Hund ein dröhnendes Bellen aus und stürzte auf sie zu.
Carmen ließ den Sombrero liegen, wo er lag, und rannte davon.
Zuerst wollte sie zum Mauerspalt laufen, aber da stand der Alte und lachte meckernd. Sie fuhr herum und rannte den See entlang, stolperte über Steine und Wurzeln und der Hund jagte bellend und hechelnd hinter ihr her.
Endlich sah sie zu ihrer Linken einen schmalen Weg, der auf die Straße zurückführen musste. Es war wieder nur ein Spalt zwischen zwei Hauswänden und sie watete durch widerlich weichen Unrat.
Das alles war doch ein Alptraum. Gleich würde sie aufwachen, in ihrem Bett in München, und Maria erzählen, was sie im Schlaf geängstigt hatte. Aber zur gleichen Zeit wusste sie, dass es kein Traum war – der knöcheltiefe Dreck war echt und ebenso die tote Ratte, die wie ein erschlagener Wächter am Ende des Mauerspalts lag.
Carmen stürzte zwischen den Hauswänden hervor und sah hektisch um sich. Windschiefe Häuser, bröckelnde Fassaden. Sie erkannte überhaupt nichts wieder. Aber das musste doch dieselbe Straße sein, auf der sie vorhin gekommen waren? Nach rechts führte das Sträßchen abwärts, linker Hand wand es sich den Hügel empor. Dort oben musste jedenfalls die Plaza Central sein.
Also wandte sich Carmen nach links und lief den Berg hinauf, so schnell sie irgend konnte. Mehrfach stolperte sie auf dem holprigen Pflaster. Zumindest der Hund schien ihr nicht durch den Mauerspalt gefolgt zu sein. Aber die Schwüle wurde immer drückender und der Himmel war mittlerweile fast schwarz. Und wo war nur die Bodega, in der sie vorhin mit Maria gesessen hatte? Musste hier nicht irgendwo auch der Telefonladen sein? Die Bäckerei oder das Hoftor, aus dem das Hündchen hervorgestürzt war? Es konnte doch nicht sein, dass sie sich verlaufen hatte – in diesem lächerlichen Nest und ausgerechnet jetzt!
Stolpernd folgte sie weiter der schmalen Straße, die plötzlich einen scharfen Rechtsknick machte. Dahinter ging es wieder abwärts.
Carmen blieb stehen. Sie fühlte sich ganz zittrig in den Beinen. Das durfte alles nicht wahr sein! Sie musste doch hinauf zur Plaza! Dort musste ja irgendwo das archäologische Büro sein, in dem Maria arbeitete. Dort war auch das Polizeirevier, auf das ihre Mutter sie vorhin noch aufmerksam gemacht hatte – als hätte sie etwas geahnt!
Und den schiefen Platz vor der Kirche musste sie auch überqueren, um zu ihrem Haus zurückzugehen. In die Calle Antiguedad – genau, so hieß ihre Straße. Was für ein Glück, dass Maria ihr vorhin zumindest noch ein paar Hinweise gegeben hatte. Und den Hausschlüssel, sonst wäre sie jetzt völlig aufgeschmissen.
Sie hatte das Gefühl, zu glühen. Der Schweiß lief ihr über Gesicht und Rücken. Carmen überquerte die Straße und hockte sich auf einen Mauersims. Auf einmal schossen ihr Tränen in die Augen. Sie schnüffelte und schüttelte den Kopf. »Sei kein Baby«, murmelte sie vor sich hin.
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