Gößling, Andreas
rennenden Jaguaren. Beide hatten die gleichen schlanken, zierlichen Körper und genau die gleiche dunkelbraune, ein wenig ins Olivfarbene spie-lende Haut. Bestimmt waren sie einen Kopf kleiner als Carmen, aber sie strahlten eine solche düstere Kraft aus, dass niemand sie für Kinder gehalten hätte. Eher für alterslose Wesen, dachte Carmen, der immer unheimlicher wurde, je länger sie die Zwillinge ansah.
»Kanaas und Ixom«, sagte Pedro. Er deutete auf den Jungen und das Mädchen wie auf zwei Ausstellungsstücke und ließ seine Hand dann hastig auf sein Knie zurückfallen. Auf einmal wirkte er sehr nervös. »Und das ist Carmen«, sagte er zu den Zwillingen. Aber die kümmerten sich gar nicht um ihn, sondern sahen mit finsterem Blick an Pedro vorbei.
Ixtu-ul kam aus ihrem Winkel zurück, in der Hand einen bunt bestickten Kittel, den sie vor Carmen schwenkte. »Maya-Kleid«, sagte sie wieder, »komm anziehen.«
Jetzt platzte Carmen aber der Kragen. »Ja, was soll ich denn damit?«, rief sie aus. »Wir brauchen jemanden, der uns den Weg nach Tzapalil zeigt, alles andere ist doch einfach Mist!« Draußen erklang plötzlich ein dröhnendes Bellen. Carmen erstarrte vor Schreck und fing einen warnenden Blick von Ixtu-ul auf. »Wenn uns die Zwillinge schon nicht helfen dürfen«, fuhr sie viel leiser fort und sah von Pedro zu seiner Tante, »dann muss es doch noch jemand anderen geben, der den Weg zu dieser Maya-Stadt kennt?«
»Meinen Großvater natürlich. Er hat die beiden schließlich nach Tzapalil gebracht.« Pedro sprang auf und ging ruhelos hin und her, so gut das in der Hütte möglich war. »Aber davon will er jetzt nichts mehr wissen.«
»Dein Großvater?« Carmen sah Pedro mit großen Augen an. Sie hatte den Eindruck, wieder mal überhaupt nichts zu verstehen. »Wieso hat er denn heute so gegen den Canek und diese Leute geschimpft – wenn er damals auf ihrer Seite war? Und wann war das eigentlich?
Wann waren die Zwillinge denn in Tzapalil, Pedro? Und was haben sie da überhaupt so Grässliches erlebt?«
»Viele Fragen, Gringa. Wer gibt dir das Recht dazu?« Kanaas sah Carmen grimmig an. »Du hast doch gehört, was Ajschak-bej gesagt hat.«
Die Zwillinge sprachen also auch Spanisch? Na, umso besser.
Auch Carmen stand auf und stemmte die Fäuste auf ihre Hüften. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie eng die Hütte war. Ixtu-ul, Pedro, die Zwillinge und sie selbst standen sich gegenseitig praktisch auf den Zehen. »Ajschak-bej – das ist wieder euer Großvater?«, fragte sie und wartete die Antwort gar nicht ab. »Ja, Kanaas«, sagte sie, »ich habe allerdings gehört, was er gesagt hat. Angeblich wollen eure Götter nicht, dass deine Schwester und du nach Tzapalil zurückkehren. Aber warum nicht? Und warum wollten sie damals, dass ihr hingeht?« Der Junge starrte sie nur wortlos an. Carmen bemerkte den abwesenden Blick von Ixom. Offenbar verstand sie kein Wort. Also waren die Zwillinge doch nicht so vollkommen gleich? »Und was mir das Recht zu diesen Fragen gibt, willst du wissen?«, fuhr sie fort und gab sich Mühe, mindestens so finster wie dieser Zwillingsjunge dreinzuschauen. »Ganz einfach, Kanaas: Diese Leute haben meine Mutter und Pedros Vater entführt und drohen damit, sie umzubringen. Was würdest du denn an unserer Stelle tun? Den Willen der Götter geschehen lassen? Ganz bestimmt nicht – sonst wärst du mit deiner Schwester ja auch nicht aus Tzapalil abgehauen, oder?«
Der Schweiß lief Carmen schon wieder den Rücken runter. Sie zitterte am ganzen Körper, aber sie zwang sich dem Jungen weiter starr in die Augen zu sehen. Niemals in ihrem Leben hatte sie so mutig dahergeredet und noch vor kurzem hätte sie sich so etwas auch nie und nimmer zugetraut. Aber jetzt spürte sie, dass ihre Worte und ihre Haltung die Zwillinge beeindruckten. Kanaas sah sie immer noch grimmig an, doch zur gleichen Zeit beriet er sich leise mit seiner Schwester. Sie redete auf ihn ein und er wehrte sich eine Weile lang wütend. Dann mischte sich auch ihre Mutter noch ein und minutenlang redeten sie alle drei gleichzeitig in ihrer seltsamen Sprache.
Es klang wie Vogelzwitschern, vermischt mit knallenden Schnalzgeräuschen.
Endlich zuckte Kanaas mit den Schultern. »Also meinetwegen, Gringa. Wir erzählen euch, was es mit Tzapalil auf sich hat. Und wenn ihr uns dann einen einzigen Grund nennen könnt, warum Ixom und ich das machen sollten, bringen wir euch dorthin.«
Es klang, als ob nach seiner Meinung eher der
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