Gößling, Andreas
Himmel einstürzen würde. Carmen sah zu Pedro, der wieder mal bloß die Schultern hob und wieder fallen ließ.
»Besser hinsetzen, alle.« Ixtu-ul brachte einen neuen Krug mit Mondtee. »Kanaas sprechen für Zwillinge.«
Sie setzten sich alle fünf auf die Tuch-und Teppichstapel und Kanaas begann zu erzählen.
»Keine Stadt ist größer und schöner als Tzapalil«, sagte der Zwillingsjunge. Seine schrägen, katzenhaften Augen blickten ins Leere.
Auch er sah plötzlich aus, als ob er schielte – oder in eine andere Wirklichkeit hinübersähe. »Ixom und ich waren ja auch schon oft in Santa Elena oder in Flores. Aber eure Kastilianerstädte sind ein Dreck gegen die Götterstadt Tzapalil. Und auch unser Walddorf hier, Yax-kech, ist nur ein Melonenkern neben der funkelnden Goldkrone Tzapalil.« Er lächelte in sich hinein. Seine finstere Stimmung schien verflogen oder zumindest überdeckt. Auch Ixom strahlte vor sich hin, als ob sie im Geiste wieder durch die herrlichen Straßen von Tzapalil liefe.
So klein und bescheiden der Waldsee von Yax-kech, fuhr Kanaas fort, so riesig und majestätisch sei der Cenote von Tzapalil. Hundert Meter tief in einem Kalksteinkrater liege dieser heilige See und dreizehn Treppenwege führten von dort unten in die dreizehn heiligen Tempel und Paläste der Königsstadt. »Es gibt nichts Schöneres unter der Sonne als Tzapalil. Dort regiert der göttliche Canek in seinem Palast und dort werden alle Götter der Maya in Tempeln und Pyramiden verehrt. Wie in den alten Zeiten, als unser Volk reich und mächtig war.«
Das kapier ich nicht, dachte Carmen. Warum wollten die Zwillinge denn unbedingt wieder weg von dort, wenn es in Tzapalil so unbeschreiblich schön war? Aber Kanaas sah schon wieder so zornig aus, dass sie sich nicht getraute ihn direkt zu fragen. Und seiner Schwester und ihm sollte dort in Tzapalil doch etwas Grässliches widerfahren sein… Alle spielten darauf an, aber keiner sagte, was damals wirklich passiert war. Doch da redete Kanaas schon weiter.
»Als unser Großvater Ajschak-bej uns in die verborgene Königsstadt brachte, waren wir sieben Jahre alt.« Er warf seiner Schwester einen raschen Blick zu. »Zwillinge sind heilig. Kein Sterblicher ist den Göttern näher als wir. Nach uraltem Brauch sollten wir Priester des Jaguartempels werden.«
Carmen schaute von Kanaas zu Ixom. Sie versuchte sich vorzustellen, wie sich das anfühlen mochte: von allen verehrt zu werden, nur weil man ein Zwilling war. Sie schüttelte den Kopf. Nein, so etwas konnte sie sich nicht vorstellen. Es war einfach zu verrückt.
»Aber warum denn heilig?«, fragte sie.
Die Frage schien aufs Neue Kanaas’ Zorn zu entfachen. Er sah sie nur kurz an und schüttelte finster den Kopf. Seine Schwester begann wieder leise auf ihn einzureden. Aber Kanaas verschränkte die Arme vor der Brust und sah mit steinerner Miene ins Leere. Was hab ich denn jetzt wieder falsch gemacht?, dachte Carmen.
»Heilig – ganz einfach«, mischte sich Ixtu-ul ein. Sie hob lächelnd ihr Trinkgefäß und bedeutete ihren Gästen, es ihr gleichzutun.
Aber Carmen war die Einzige, die gleichfalls nach ihrem Becher griff. »Schon in ganz alten Geschichten erscheinen heldenhafte Götterzwillinge«, fuhr Pedros Tante fort. »Sie besiegen alte Totengötter beim Ballspiel. Seit damals müssen tote Maya nicht für immer bei Totengöttern bleiben. Seit damals wir können – wie sagt man – wiedergeboren werden. Und damals sind Götterzwillinge selber als riesige Bälle in den Himmel gestiegen. Herr Sonne und Frau Mond, das göttliche Zwillingspaar.« Sie verneigte sich in Richtung der runden Fenster, vor denen die Mondsichel schwebte.
Götter beim Ballspiel?, dachte Carmen. Und dann selber zu Bällen geworden? Das wurde ja immer verrückter! Sie wollte Pedro einen fragenden Blick zuwerfen, aber der machte mittlerweile ein Gesicht, als ob er sich ganz weit weg von hier wünschte.
»Wenn die Götterzwillinge in unserer Welt erscheinen, verkörpern sie sich als Jaguar«, sagte Kanaas. »Das solltest sogar du kapieren, Gringa.« Er starrte Carmen aus schrägen Katzenaugen an. »Im Tempel des Jaguarpriesters werden sie verehrt. Der Jaguar ist ihr Geisttier, hell und dunkel gefleckt wie Sonne und Mond. Deshalb müssen alle Jaguarpriester Zwillingspaare sein. Und deshalb hat unser Großvater uns damals vor acht Jahren nach Tzapalil gebracht.
In den Tempel des Jaguarpriesters. Jedes Maya-Dorf musste ein Zwillingspaar nach Tzapalil
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