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Gößling, Andreas

Gößling, Andreas

Titel: Gößling, Andreas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tzapalil - Im Bann des Jaguars
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bringen, damit es zu Jaguarpriestern ausgebildet würde.«
    Carmen rieb sich die Augen, weniger aus Müdigkeit als um sicherzugehen, dass sie nicht träumte. Das alles hörte sich an wie ein seltsames Märchen, aber doch nicht wie die Wirklichkeit! Trotzdem konnte sie aus den Gesichtern ablesen, dass Kanaas die reine Wahrheit sprach. Seine Wahrheit. Auch Ixtu-uls und Ixoms Wahrheit. Nur Pedro schaute immer noch ganz verquält drein. So als ob er seinem Cousin am liebsten den Mund verboten hätte.
    »Wir waren noch nicht lange in Tzapalil«, fuhr Kanaas fort, »als etwas Furchtbares passierte. Unser Vater wurde im Schlaf von einem Jaguar getötet, weit draußen im Wald.« Er unterbrach sich und lauschte nach draußen. Der nächtliche Dschungel knarrte und knisterte und zirpte und stöhnte wie eine riesige Geisterbahn. »So etwas kommt nur sehr selten vor und immer ist es ein Zeichen der Götter.
    Wer auf diese Weise getötet wird, hat ihre heiligsten Gebote verletzt.«
    »Blödsinn! Das war einfach ein Unglück! Und das weißt du ganz genau!« Pedro hatte offenbar nicht länger an sich halten können. Die ganze Zeit schon hatte es in ihm gebrodelt, Carmen hatte es ja gesehen. Und jetzt fing sie auch an zu verstehen, warum er sich über diese verrückte Jaguargeschichte derart aufregte. Sein Vater war ja damals dabei gewesen, als dieser andere Mann vom Jaguar gefressen worden war. Vor acht Jahren – genau! Das hatte ja auch Pedro gesagt: Acht Jahre war es her, dass sie nach Santa Elena gezogen waren.
    Kanaas und Ixom unterhielten sich wieder leise in ihrer Sprache.
    Ixtu-ul lächelte abwechselnd Pedro und die Zwillinge an und machte beschwichtigende Handbewegungen. Aber niemand beachtete sie, vor allem die beiden Jungen nicht. Pedro war wieder aufgesprungen und stand, die Hände zu Fäusten geballt, vor den Zwillingen. Kanaas schielte mit einem Auge zu ihm hoch und behielt mit dem anderen seine Schwester im Blick. Die beiden sahen wirklich aus wie Jaguare, dachte Carmen. Die zurückweichende Stirn, die schrägen Augen
    – einfach unheimlich. Niemals hatte sie jemanden gesehen, der so sehr einer großen, wilden Katze ähnelte. Und hier gab es gleich zwei davon. Und in Tzapalil, im Tempel der Jaguarpriester? Da mussten ja Unmengen von ihnen leben – wenn jedes Maya-Dorf ein solches Zwillingspaar dorthin gebracht hatte? Aber wieso sahen denn Jaguarpriester überhaupt wie menschliche Raubkatzen aus?, überlegte sie dann. Und was hatte Ixtu-ul vorhin gesagt: Die Maya-Leute glaubten an Wiedergeburt? Jaguare, Bälle, Totengötter, heilige Zwillinge – in Carmens Kopf begann es, sich zu drehen.
    »Du weißt so gut wie wir, dass es kein Unglück war.« Auch Kanaas erhob sich, die Hände auf den Hüften. »Kein Raubtier, das einfach auf Beutezug war.« Der Jaguarjunge war mehr als einen Kopf kleiner als Pedro, aber er wirkte so viel wilder und stärker, dass Carmen auf einmal Angst um Pedro bekam. »Oder hast du schon mal von einem Jaguar gehört, der einen Mann auffrisst und dem zweiten kein Haar krümmt – obwohl dieser zweite direkt daneben in seiner Hängematte liegt?«
    »Mein Vater hat eben Glück gehabt. Oder der Jaguar war einfach satt, nachdem er euren Vater aufgefressen hatte.« Pedro hob die Arme. Im selben Moment spannte sich Kanaas wie zum Sprung.
    »Was weiß denn ich, verdammt noch mal!« Pedro ließ seine Arme wieder sinken und schüttelte den Kopf.
    Euren Vater?, dachte Carmen. Ach du lieber Gott! Entgeistert sah sie von Kanaas zu Pedro und dann wieder zurück. Das also war damals passiert? Der Mann, den der Jaguar zerfleischt hatte, war Ixtu-uls Mann gewesen, der Vater von Ixom und Kanaas! Und der Bruder von Pedros Vater.
    »Verräter, da sagst du es selbst: Was weißt du schon!« Kanaas redete auf einmal ganz leise, durch die gefletschten Zähne hindurch.
    Erstaunt sah Carmen, dass seine Zähne spitz zugefeilt waren und die Zwischenräume mit türkisfarbenen Steinen besetzt. »Was weißt du schon von den Geheimnissen der alten Götter«, zischte Kanaas,
    »außer dass ihr sie an die Gringos verscherbeln könnt – du und dein verbrecherischer Vater! Recht geschieht es ihm, tausend Mal recht!
    Wenn sie deinem Vater übermorgen in Tzapalil den Kopf abschlagen, werd ich hier in Yax-kech den Göttern mit einem Blutopfer danken!«
    Pedro sackte regelrecht in sich zusammen. Er machte den Mund auf und wieder zu. Kein Wort kam heraus, nur ein Gurgeln. Er sah von Kanaas zu Ixom und von den Zwillingen zu ihrer

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