Gößling, Andreas
sie dann wieder – Ixtu-ul hatte sie freundlich aufgenommen.
Vor den Fenstern begann der Nachthimmel schon fahl zu werden.
Nicht mehr lange, und ein neuer Tag würde dämmern – der Montag schon! Nur zwei Tage noch, dann sollten ihre Mutter und Pedros Vater sterben! Was für ein Wahnsinn, dachte Carmen, und wir sitzen hier rum und reden sinnloses Zeug! Beschwörend sah sie Pedros Tante an. Ixtu-ul nickte ihr zu und wandte sich mit einem Lächeln an ihren Neffen: »Pedro – was du antworten?«
Pedro rieb sich mit der flachen Hand über sein Gesicht, »ja, al-so…«, begann er und hob die Schultern. »Also, Kanaas, es tut mir natürlich furchtbar Leid, was du und Ixom in Tzapalil durchmachen mussten. Aber ich kann doch nichts dafür. Und mein Vater auch nicht – diese falschen Priester in Tzapalil drehen alles nur so hin, wie es ihnen in den Kram passt. Reden davon, dass sie die alten Zeiten wieder aufleben lassen wollen, und wissen ganz genau, dass das überhaupt nicht möglich ist. Seht euch doch mal um, Ixom und Kanaas! Kommt mal aus eurem Wald heraus und macht die Augen auf!
Wie soll das denn wohl gehen: dass das ganze Land wieder nur den Maya gehört? Wie wollt ihr die weißen Leute denn aus Guatemala vertreiben? Meinst du, die lassen sich einfach so wegschicken? Und was soll mit den Mestizen passieren, mit all den hunderttausend Leuten, die zur Hälfte weißes und zur Hälfte Maya-Blut haben?
Wollt ihr die vielleicht massakrieren oder zu Sklaven machen? Du bist doch ein Idiot, Kanaas! Oder warum sonst lässt du dir von abergläubischem Geschwätz den Kopf verdrehen?«
Kanaas stieß einen Knurrlaut aus, packte Pedro bei den Armen
und hob ihn scheinbar mühelos hoch. Pedro schrie auf und trat in der Luft nach seinem Cousin. Dann fielen sie beide ineinander verkrallt zu Boden und rollten sich zwischen den Füßen der anderen, den Stoffballen, Teppichhaufen und Holzklötzen stöhnend und fluchend hin und her.
Diese dummen Jungs!, dachte Carmen. Mit ihrem angeberischen Gehabe machten sie jede Einigung unmöglich! Wie Bertie am Isarufer – es war doch immer und überall das Gleiche! Kanaas hockte mittlerweile vorgebeugt auf Pedros Bauch und drückte ihm die Arme auf den Boden. Pedro hatte einen knallroten Kopf, so angestrengt versuchte er sich dem Griff seines jüngeren Cousins zu entwinden.
Der fletschte wieder die Zähne und sah triumphierend zu seiner Schwester auf. Ganz offensichtlich gefiel er sich in seiner Jaguarpose.
»Schluss jetzt!«, rief Carmen. »Hört auf der Stelle auf!« Irgendetwas an ihr – der Klang ihrer Stimme oder ihr wütendes Gesicht – schien sogar den Jaguar jungen ein wenig zu beeindrucken. Zu Carmens Überraschung hielten die beiden tatsächlich inne und sahen sie aus ihren Kampfpositionen heraus aufmerksam an. »Ihr seid wohl völlig verrückt geworden«, fuhr sie leiser fort. »Wer von unseren Eltern irgendwas Verbotenes gemacht hat oder was die Priester in diesem Tzapalil eurem Volk versprechen – das ist doch jetzt alles ganz egal! Pedros Vater und meine Mutter sollen umgebracht werden, nur weil sie etwas weggenommen haben, was ihnen nicht gehört. Das müssen wir doch unbedingt verhindern! Pedro und ich sowieso, aber Kanaas, du und deine Schwester auch! Es kann doch nicht sein, dass du Pedros Vater wirklich den Tod wünschst – nur weil euer Vater nicht mehr am Leben ist und weil ihr von diesen Jaguarpriestern schlecht behandelt worden seid. Das könnt ihr doch nicht einfach gegeneinander aufrechnen!«
Beschwörend sah sie Kanaas an. Wie ein Raubtier kauerte er auf Pedros Brustkorb und sie spürte ja längst, dass er sich nicht erweichen lassen würde. Wenn es sein müsste, wäre sie vor ihm auf die Knie gefallen, doch auch das würde nichts helfen. Was nur konnte sie diesen Jaguar Zwillingen versprechen, damit sie sich umstimmen ließen? Geld? Sie lebten ja in einer Welt, in der Geld überhaupt keinen Wert zu haben schien. Verzweifelt überlegte sie hin und her und da kam ihr urplötzlich eine Idee.
Durfte sie es wirklich wagen? Der Gedanke war so unerwartet gekommen, dass es wie ein Sausen hinter ihren Augen war. Und wenn die Sache schief ging? Wenn Kanaas sie nur auslachen würde?
Durfte sie das überhaupt: jemanden ans Messer liefern, um Maria zu retten? Auch wenn dieser Jemand nach allem, was sie über ihn wusste – oder eher ahnte und fühlte –, eine gehörige Strafe verdient hatte?
Aber sie konnte ihn ja gar nicht wirklich verraten – sie konnte nur so
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