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Gößling, Andreas

Gößling, Andreas

Titel: Gößling, Andreas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tzapalil - Im Bann des Jaguars
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tun, als ob sie diese Macht und dieses Wissen besäße. Dieser Gedanke gab den Ausschlag. Ein solcher Bluff musste erlaubt sein.
    Schließlich ging es hier wirklich um Leben und Tod.
    Carmen holte tief Luft. »Bringt Pedro und mich nach Tzapalil«, sagte sie und sah von Kanaas zu Ixom. »Dann sorge ich dafür, dass der Mann unschädlich gemacht wird, der diese ganzen Grab-und Tempelraubzüge angestiftet hat. Sein Name ist Paolo Cingalez.«
    Ohne sie aus den Augen zu lassen, stand Kanaas auf und übersetzte für seine Schwester, was die Gringa gesagt hatte. Ixom hörte aufmerksam zu und sah immer wieder zu Carmen rüber, als versuchte sie abzuschätzen, ob sie dem weißen Mädchen trauen könnten.
    »Cingalez«, wiederholte sie flüsternd, mit seltsamer Aussprache und Betonung. Es klang eher wie »Jinkalétts!« – und es klang vor allem so, als ob das Jaguarmädchen diesen Namen nicht zum ersten Mal hörte.
    »Unschädlich?«, wiederholte Kanaas. »Wie soll das gehen?«
    Carmen schluckte, aber sie zwang sich Kanaas unverwandt in die Augen zu sehen. Ich hab’s ja geträumt, dachte sie und sagte stattdessen: »Ich kann’s beweisen – wartet nur ab.«
    Die Zwillinge sahen einander an. Es war, als ob beide in einen Spiegel schauten. Sonst geschah einen endlosen Moment lang überhaupt nichts. Dann stand das Jaguarmädchen auf und ergriff Carmens Hand. Kanaas schaute ihr mit finsterer Miene zu. Schließlich gab er sich einen Ruck und reichte Pedro, der zwischen ihnen am Boden hockte, die Hand und zog ihn hoch.
    »Ja!«, sagten die Jaguarzwillinge wie aus einem Mund.
    »Zwillinge sagen Ja. Euch bringen nach Tzapalil.« Ixtu-ul grinste so breit, dass ihre Zahnlücken sichtbar wurden – wie zwei schwarze Tore in einer prachtvoll weißen Wand.

10
     
    Die Treppe hinab zum Cenote war so steil, dass Carmen zurückzuckte. Winzig schmale Stufen in der senkrechten knochenweißen Kraterwand. Tief unter ihnen glühte das Grüne Auge, dem Yax-kech seinen Namen verdankte.
    Da geh ich nicht runter, dachte Carmen und sah zu, wie Pedro sich an den Abstieg machte. Er schenkte ihr ein verzerrtes Lächeln und verschwand ruckweise vor ihren Augen. Das Wasser dort unten war tatsächlich so intensiv grün, als ob es angeleuchtet würde. Dabei war es immer noch eher Nacht als Tag. Der Himmel von einem krankhaften Dunkelgrau, der allem um sie herum, dem Wald und dem Dutzend strohgedeckter Hütten, einen geisterhaften Anstrich gab.
    Schon war Pedro nur noch von den Schultern aufwärts zu sehen.
    Seine Hände klammerten sich an den Rand des Kraters, dann verschwanden auch sie hinter der kreideweißen Wand. Die Zwillinge waren bestimmt längst unten am Wasser, dachte Carmen. Glitten mit ihrem Boot vielleicht schon über das Grüne Auge und warteten ungeduldig, dass der Verräter und die Gringa es ihnen endlich nachtaten. Im Morgengrauen würde der Dschungel mit einem ohrenbetäubenden Vogelkonzert erwachen, das natürlich auch das ganze Dorf aus dem Schlaf reißen würde.
    Bis dahin mussten sie auf und davon sein, wie Kanaas ihnen erklärt hatte. Wenn dem Großvater erst klar geworden war, dass nicht nur sein Verräter-Enkel und das weiße Mädchen, sondern auch die Zwillinge verschwunden waren, würde er ein paar von seinen Männern losschicken, um sie zu suchen und ins Dorf zurückzubringen.
    Was er dann mit ihnen anstellen würde, daran wollte sie lieber nicht denken.
    Carmens Herz hämmerte und ihre Knie fühlten sich an wie Camembert. Bis zum Wasser waren es mindestens sechzig oder siebzig Stufen. Jede von ihnen so schmal wie ein Zeichenlineal und glitschig wie nasse Kreide. Aber es half ja alles nichts. Sie holte tief Luft, drehte sich herum und tastete mit dem rechten Fuß hinter sich.
    Stufe um Stufe krabbelte sie abwärts, mit Fingern und Zehen an den schmierigen Kalkstein gekrallt. Es ging besser, als sie erwartet hatte – jedenfalls solange sie nicht daran dachte, was sich unter ihr befand. Zwanzig Meter feuchte Luft, sonst überhaupt nichts. Sie spürte ein Sausen hinter der Stirn und musste einen Moment innehalten, mit ihrem ganzen Körper an den Stein gedrückt. Obwohl es höchstens vier oder fünf Uhr morgens sein konnte, war es schon wieder schwülwarm wie in der Sauna. Oder immer noch – wahrscheinlich wurde es hier nie richtig kühl.
    Langsam kletterte sie weiter abwärts. Unter ihren nackten Fußsohlen fühlten sich die Stufen an, als ob eine Armee Schnecken darüber geglitscht wäre. Denk an was anderes, ermahnte sie

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