Gößling, Andreas
Carmen und ein Schauder lief über ihren Rücken. Es mussten Schädel-oder Beckenknochen sein – hoffentlich von Tieren…
In Höhe des Wassers gab es unzählige kleinere und größere Löcher in der Kalkwand. Manche sahen wie leere Augenhöhlen aus, andere wie unheimliche schwarze Tore. Für einen Moment musste Carmen an die Zahnlücken in Ixtu-uls schimmernd weißem Gebiss denken. Auf eines der größeren Torlöcher hielten die Zwillinge zu.
Auf keinen Fall durften sie die beiden aus den Augen verlieren, das hatte Pedro ihr vorhin noch eingeschärft. Das gesamte Dschungel-land, hunderte von Quadratkilometern, war von unterirdischen Flüssen und Seen durchzogen. Allein würden sie niemals mehr aus diesem Labyrinth herausfinden. Geschweige denn auf eigene Faust die verborgene Stadt Tzapalil aufspüren. Ohne kundige Führer würden sie in der unterirdischen Finsternis herumirren, bis sie ganz einfach verhungert wären. Oder von den wilden Tieren zerrissen, die in dieser unheimlichen Unterwelt lebten.
Nach dem Glauben der alten Maya war es der heilige Bezirk ihrer Unterweltgötter. Nur die Priester dieser Gottheiten durften sich dort hineinwagen und die Leute, die sich dem Schutz und der Führung der Priester anvertraut hatten. Da konnten sie nur hoffen, dass die Zwillinge in den Augen dieser Götter überhaupt als Priester galten.
Obwohl sie vor Jahren aus Tzapalil abgehauen waren, weil sie den Tempeldienst nicht mehr ertragen hatten.
Gleichmäßig stieß Carmen ihr Paddel ins grüne Wasser. Irgendwo weit über ihnen glaubte sie das dröhnende Bellen von Yeeb-ek zu hören. Dann glitten sie durch das Felsentor und um sie herum wurde es mit einem Schlag schwarz.
In der Dunkelheit verlor man jedes Gefühl für Zeit und Raum.
Waren sie seit einer Stunde unterwegs oder seit einem halben Tag?
Kamen sie überhaupt von der Stelle oder paddelten sie gegen eine Strömung an, die sie Stunde um Stunde auf ein und demselben Fleck festbannte? Carmen hätte es nicht sagen können. Zu sehen war fast gar nichts, auch wenn in dieser Finsternis ein ganz schwaches grünliches Glühen war. So als ob von irgendwoher mattes Licht einsickerte, das sich im grünen Wasser reflektierte. Was ja eigentlich nicht sein konnte, oder? Auch zu hören war kaum etwas, bloß dieses Murmeln und Glucksen vom Wasser her, das Eintauchen ihrer Paddel und ihre genauso gleichmäßigen Atemgeräusche. Aber diese schwachen, eintönigen Laute wurden durch Echos von den Tunnelwänden zu einem ständigen Sausen und Brausen verstärkt.
»Achtung! Macht langsam!«
Carmen und Pedro reagierten im gleichen Moment. Sie hielten ihre Paddel ins Wasser und bremsten ab. Die Zwillinge trieben so nah vor ihnen, dass Carmen einen hellen Fleck vor sich über dem Wasser schweben sah – das weiße Gewand von Ixom.
»Links – ein Seitenarm. Ganz leise!« Das war wieder Kanaas und seine Stimme verriet, wie angespannt er war. Aber warum? Was hatten die Zwillinge bemerkt? Kam ihnen auf diesem dunklen Fluss etwa jemand entgegen?
Hinter Kanaas und Ixom lenkte Carmen ihr Boot nach links in den schmalen Kanal. Hier war es so eng, dass sie mit der Schulter gegen die Felswand stieß.
»Haltet euer Boot fest!«, zischte Kanaas. Sie stemmten ihre Paddel gegen den flachen Grund. Jetzt spürte Carmen die schwache Strömung, die sie weiterzuziehen versuchte, tiefer in den Seitenarm hinein. »Keinen Ton mehr!«
Dicht hinter sich fühlte sie Pedros Nähe, Pedros Wärme, Pedros Atem. Im Boot war es so eng, dass man keine Bewegung machen konnte, ohne den anderen zu berühren. Wenn Pedro seine Beine ausstreckte, reichten seine Füße bis in die Höhlung vorn im Bug.
Wenn er sie anwinkelte, steckten seine Knie praktisch unter Carmens Achseln. Vorsichtig drehte sie sich um und sah über die Schulter zurück. Auch Pedro hatte sich halb umgewendet. Obwohl sie nur ein paar Meter weit in den Seitenarm hineingeglitten sein konnten, war der Fluss von hier aus schon nicht mehr zu sehen. Es war so dunkel, als ob man gegen einen schwarzen Vorhang schaute, durch den nur ganz schwach das grünliche Glühen drang.
Aber das Brausen war stärker geworden. Carmen lauschte angespannt in die Dunkelheit. Wie war das möglich? Sie saßen hier doch völlig reglos und wagten kaum Luft zu holen. Und trotzdem war um sie herum ein Glucksen und Murmeln und Sausen, als ob sie alle vier angestrengt paddelten und um Atem rangen. Und jetzt mischte sich dahinten ein Schimmer in die Finsternis, ein Funzeln und
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