Gößling, Andreas
Flackern, das mit jeder Sekunde kräftiger wurde. Schon war es so hell, dass Carmen die Wände sehen konnte, die zu beiden Seiten ihres Bach-laufs aufstiegen. Dort hinten das längliche, an den Seiten geschwungene Felsloch, vor dem es immer heller wurde, das musste die Mündung zum Fluss hin sein. Und vor dieser Öffnung, die wie ein übergroßes Schlüsselloch aussah, zogen jetzt vier, fünf, sechs, sieben flackernde Lichter vorbei. Jedes von ihnen beleuchtete ein Boot, in dem mindestens fünf Gestalten saßen. Offenbar waren sie ihnen vom Dorf her gefolgt, jedenfalls glitten sie von rechts her vorüber, begleitet vom eintönigen Brausen und Murmeln, das zu diesem Anblick überhaupt nicht zu passen schien. Im nächsten Moment waren sie vorbei, das Brausen wurde schwächer, der Lichtschein blasser, und schon war es wieder so still und dunkel, dass Carmen sich fragte, ob sie das alles vielleicht nur geträumt hatte.
»Ganz ruhig!«, flüsterte Kanaas. »Rührt euch nicht, bis ich’s euch erlaube!«
Angeber, dachte sie wieder. Dummer, großmäuliger, katzenäugiger Aufschneider. Aber ihr Herz schlug so heftig, dass es bis in ihre Schläfen hinaufdröhnte. Der Nacken tat ihr weh, weil sie immer noch ganz verdreht dasaß und nach hinten starrte. Auch ihre Arme begannen zu schmerzen, so angestrengt stemmte sie ihr Paddel gegen die Strömung. Aber sie blieb wie versteinert sitzen und sah über ihre Schulter in die Dunkelheit. Sieben Boote mit vierzig Männern oder mehr?, dachte Carmen. Warum sollte der Großvater ihnen eine solche Streitmacht hinterherschicken? Wollte er wirklich nur verhindern, dass die Zwillinge nach Tzapalil zurückkehrten? Um sie zu verfolgen, hätte doch ein Bruchteil dieser Flotte ausgereicht! Aber vielleicht verfolgte er ja auch ganz andere Pläne?
Während sie noch hin und her überlegte, schimmerten vor der Felsöffnung abermals Lichter auf. Wieder zogen Boote vorbei, wieder zählte Carmen mechanisch mit: vier, fünf, sechs, sieben. Aber diesmal kamen die Boote von links und jagten in einem irrsinnigen Tempo dorthin zurück, von wo sie doch gerade erst gekommen waren.
»Was soll das?«, flüsterte sie Pedro zu. Kanaas zischte ihnen zu, dass sie still sein sollten, aber Carmen hatte die Nase voll von seiner Wichtigtuerei. »Warum rudern sie so schnell zurück, als ob der Teufel hinter ihnen her wäre?«, flüsterte sie.
Pedro beugte sich vor und brachte seinen Mund ganz nah an ihr Ohr. »Vielleicht ist er ja hinter ihnen her?«, raunte er und Carmen versuchte vergeblich zu erraten, ob das vielleicht ein Scherz sein sollte. Pedros Lippen so nah an ihrem Gesicht verwirrten sie noch mehr als sowieso schon. Seine Augen funkelten, seine Zähne schimmerten neben ihr im Dunkeln. Kitzelnd strich sein Atem über ihren Hals. »Auf jeden Fall sind wir sie jetzt los«, fügte er hinzu.
Carmen drehte ihren Kopf wieder nach vorn. Wenn er dich geküsst hätte? Herrje, hast du keine anderen Sorgen? Plötzlich spürte sie die Angst wie einen Faustschlag in ihrem Magen. »Verdammt, was wollten die nur?«, flüsterte sie. »Und warum sind sie so plötzlich wieder weg?«
»Zurück zum Fluss. Leise, ganz langsam«, zischte Kanaas. »Es war eine List – sie sind mit sieben Lichtern zurückgefahren, aber nur mit sechs Booten.«
Eine Kurve, ein Wasserwirbel, eine Felsenge – dann ging es wieder endlos lange geradeaus. Hinter jedem Felsvorsprung, in jeder Wandnische konnten ihre Feinde lauern. Aber viel zermürbender als die Angst war die Müdigkeit. Letzte Nacht hatte Carmen keine Sekunde lang geschlafen, so wenig wie Pedro, dessen Augen auch schon ganz glasig waren vor Schläfrigkeit. Und jetzt waren sie bestimmt schon seit sechs oder acht Stunden in diesem unterirdischen Labyrinth unterwegs. Carmen fühlte sich wie gefangen in einem Alptraum. Sie hätte gar nicht mehr sagen können, ob sie noch wach war oder schon schlief. Ob das, was da vor ihren Augen flimmerte, Wirklichkeit war oder Traum. Ob sie nachdachte oder phantasierte. Ob sie wirklich immer noch gleichmäßig wie ein Roboter ihr Knochenpaddel ein-tauchte oder ob sie vielleicht längst nach hinten umgefallen war und an Pedros Brust gelehnt schlief. Na ja, das wäre dann bestimmt nur ein Traum.
Irgendwann hatten die Zwillinge eine Fackel angezündet, und Kanaas hatte ihnen großzügig gestattet ihre Leuchte daran anzuzünden. Aber bei Licht besehen, war diese Unterwelt sogar noch unheimlicher als in der Dunkelheit. Unmengen riesiger Schatten
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