Gößling, Andreas
»Kannst du denn schwimmen?« Nur noch in den Augenwinkeln sah sie, dass er wieder nickte. Da hatte sie sich schon über den Bootsrand geworfen, ins wirbelnde Wasser, und griff noch im Fallen mit beiden Händen nach einer Schulter, einem Arm, die vor ihr im Wasser schwankten.
Unerwartet kalt war der Fluss, und als sie den Arm zu fassen bekam, fühlte er sich hart und gleichzeitig schlaff an, wie eine Liane.
Kanaas. Sie tauchte unter ihn, sodass sein Kopf und sein Brustkorb auf ihrem Rücken zu liegen kamen. Dann paddelte sie verzweifelt auf das Boot des Großvaters zu, das wenige Meter vor ihr aus den Fluten ragte. Direkt hinter ihr war auch Pedro ins Wasser gesprungen. Yeeb-ek bellte immer noch, und gerade als Carmen zu ihm hinübersah, blies der Großvater mit geblähten Backen in sein Knochenrohr. Der Pfeil schien direkt auf sie zuzufliegen. Carmen schrie auf vor Schreck, schluckte Wasser und musste husten. Ohne Kanaas loszulassen, arbeitete sie sich weiter auf das Boot zu. Ich schaff es nicht, dachte sie. Aber sie musste es einfach schaffen, genauso wie Pedro, der sich neben ihr durchs Wasser wühlte, seine reglose Cousine Ixom auf dem Buckel. Wenn der Großvater jetzt einen Pfeil auf sie abschoss, riskierte er einen der Zwillinge zu treffen. Aber vielleicht war ihm das auch egal? Vielleicht hatte er sowieso vor sie alle vier umzubringen – hier unter der Erde, wo es keine störenden Au-genzeugen gab? Das würde jedenfalls erklären, warum er alle seine Krieger zurückgeschickt und sich ganz allein hier auf die Lauer gelegt hatte. Aber was wusste sie denn, was überhaupt in seinem Kopf vorgehen mochte – bei Leuten, die glaubten, dass man als Hund wiedergeboren würde, war ja wohl alles möglich.
»Hinter das Boot!« Sie war gar nicht mal sicher, ob sie diese Worte gehört oder gedacht oder vielleicht selbst geschrien hatte.
Aber was spielte das jetzt für eine Rolle? Natürlich mussten sie auf die andere Seite, damit das Boot ihnen Deckung gab. Carmen holte tief Luft, umklammerte Kanaas’ Handgelenke so fest, wie sie nur konnte, und tauchte hinab. Hier unten war die Strömung noch weitaus stärker. Im Nu war sie mit ihrer Last unter dem verkeilten Boot hindurch. Keuchend tauchten sie und Pedro fast im selben Moment wieder auf. Hustend und stöhnend hievten sie die Zwillinge über den Bootsrand. Wie grässlich schwer ihre bewusstlosen Körper waren!
Endlich hingen sie mit Köpfen und Armen im Boot. Mit ihrer letzten Kraft zog Carmen einen Fuß von Kanaas aus dem Schlamm und wuchtete seine Beine über Bord. Mit ihrer allerletzten Kraft hoben sie das Boot über die Steinbrocken, zwischen denen es der Großvater verkeilt hatte. Jetzt war es nur noch mit einem Strick an einer Fels-nase festgemacht. Wenn sie dieses Seil lösten, würde die Strömung sie rasch davontragen.
Neben Pedro stemmte sich Carmen hoch und ließ sich ins Boot rollen. Sie fiel halb auf Kanaas, der hustete und Wasser spuckte. Erst in diesem Moment fiel ihr auf, dass Yeeb-ek nicht mehr bellte. Sie hob ein wenig den Kopf und spähte über den Bootsrand hinweg.
Irgendwie hatte es der Großvater geschafft, ihr eigenes, viel kleineres Boot zu sich ans Ufer zu bugsieren. Eben sprang der Hund hinein und der Alte folgte ihm mit einem geschickten Sprung, Speer und Blasrohr in den erhobenen Händen.
»Pedro, so mach doch!«, schrie Carmen. Wenn sie erst mal Fahrt gewonnen hätten, würde der alte Mann allein sie bestimmt nicht mehr einholen. Aber hier zwischen den Felsen konnte er leicht noch einen Pfeil auf sie abschießen oder seinen Speer zu ihnen herüber-schleudern.
Pedro hatte endlich sein Messer in der Hand. Er ließ die Klinge aus dem Knochenrohr hervorschnellen, beugte sich vor und fetzte das Seil durch. Sofort wurden sie von der Strömung gepackt. Die Augen beider Zwillinge waren wieder offen, Gott sei Dank. Ixom und Kanaas husteten um die Wette. Carmen hielt schon eines der Paddel in der Hand, die am Boden ihres neuen Bootes lagen. Eben wollte auch Pedro nach einem Paddel greifen, als auf einmal ein Geräusch ertönte, das in dieser Umgebung völlig unwirklich klang.
Wie ein Signal aus einer anderen Welt.
Pedros Handy. Es lag in seinem Rucksack in dem kleinen Boot, irgendwo zwischen den Füßen des Großvaters und den Pfoten von Yeeb-ek. Das Handy klingelte und klingelte. Und der Hund drehte schon wieder vollkommen durch. Er sprang wie ein zottiger Dämon im Boot herum, das dadurch gefährlich schaukelte. Der Großvater schimpfte
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