Gößling, Andreas
sah ihn über die Schulter an. Auch sie rang immer noch um Atem. Gerade wollte sie sagen, dass es auch für sie mehr nach einem Aufprall geklungen hätte, da erschallte vor ihnen wieder das dröhnende Bellen. »Yeeb-ek!«, flüsterte sie. Das Herz wollte ihr stehen bleiben, dann schlug es umso hämmernder in ihrer Brust. Der Großvater! Er musste irgendwo dort vorn im Dunkeln sein. Und sie trieben mit voller Beleuchtung auf den Hinterhalt zu! »Die Lichter aus!«
Sie rissen die Fackeln aus ihren Haltern und löschten sie im Wasser. Es zischte gewaltig, stinkender Qualm stieg auf, dann war es vollkommen finster. Immer noch hallten die Echos von Wand zu Wand. Carmen versuchte ihr Keuchen zu unterdrücken und lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Langsam trieben sie in der schwachen Strömung voran. Das Wasser gluckste und murmelte. Sollten sie nicht besser ans Ufer paddeln? Aber was dann? Sie konnten ja nicht einfach hier im Dunkeln warten, ohne irgendeine Ahnung, was dort vorn passiert war!
Auf einmal hörten sie einen gurgelnden Schrei. Es klang, als ob jemand Wasser gespuckt und aufgeschrien hätte und gleich wieder untergegangen wäre. Erneut bellte Yeeb-ek. Und jetzt hörten sie auch eine Männerstimme, heiser und scheltend – der Großvater!
»Die Zwillinge können nicht schwimmen.« Pedros Hände lagen auf ihren Schultern, seine Lippen berührten fast ihr Ohr. »Niemand in Yax-kech kann schwimmen. Im Cenote darf ja keiner baden – außer den Göttern und ihren Priestern.«
Ein Schauer lief Carmen den Rücken hinunter. »Aber was machen wir denn jetzt?«
»Ich weiß nicht«, flüsterte Pedro. »Vielleicht ist es eine Falle.
Aber wenn nicht? Wir müssen ihnen helfen!«
Pedro hatte Recht. Natürlich mussten sie den Zwillingen helfen!
Wieder erklang ein gurgelndes Stöhnen. Dann ein krachender Schlag, ein heller Schrei. Ixom!, dachte Carmen. Im gleichen Moment tauchten sie beide wieder ihre Paddel ins Wasser. So schnell, wie sie sich im Dunkeln überhaupt getrauten, ruderten sie weiter. Die Strömung wurde stärker, beinahe reißend. Und wenn die Zwillinge gegen einen Felsbrocken im Wasser gerast waren? Wenn sie gleich gegen dasselbe Hindernis fahren und mit ihrem Boot umfallen würden? Wieder ein Schrei, ein Gurgeln – schon ganz in ihrer Nähe.
»Kanaas?«, rief Pedro leise. »Ixom?«
Da ging direkt neben ihnen am Ufer prasselnd und fauchend ein Licht an. Es war nicht bloß eine Fackel, es war ein ganzes Lagerfeuer, ein mannshoher Scheiterhaufen in einer breiten Felsnische. Ach du lieber Himmel, dachte Carmen. Neben dem Feuer stand der Großvater, in der erhobenen Rechten einen Speer mit gewaltiger Spitze, die im Feuerschein funkelte. Vor seinen Füßen kauerte Yeeb-ek und bellte wie irrsinnig zum Wasser herüber. Im Schein des Feuers waren jetzt deutlich die beiden Gestalten zu sehen, die im wirbelnden Wasser um ihr Leben kämpften. Kanaas und Ixom. Ein langes Boot lag quer im Fluss, zwischen Felsbrocken verkeilt. Das musste das siebte Boot sein, dachte Carmen. Der Großvater war damit heimlich weitergefahren und hatte hier in der Felsenenge den Fluss blockiert. Vielleicht hatte er ihnen einfach den Weg abschneiden und sie zur Umkehr zwingen oder überreden wollen. Aber die Zwillinge mussten mit solcher Geschwindigkeit auf das Hindernis zugerast sein, dass sie nicht mehr rechtzeitig bremsen konnten. Ihr eigenes, viel kleineres Boot war regelrecht zersplittert worden.
Trümmerstücke trieben im Wasser und waren durch die Gewalt des Aufpralls bis auf die Uferfelsen geschleudert worden.
Das alles registrierte Carmen in einem einzigen Augenblick, während sie und Pedro wie wild auf die Zwillinge zupaddelten. Der Großvater schrie ihnen etwas zu, aber das Wasser toste hier so laut, dass kein Wort zu verstehen war. Yeeb-ek bellte immer noch. Der riesige Hund war aufgesprungen und lief ruhelos am Ufer hin und her. Der Sombrero auf seinem Rücken leuchtete bunt im Feuerschein.
Vor ihnen im Wasser tanzten die Köpfe der Zwillinge. Sie schienen schon gar nicht mehr bei Bewusstsein. Pedro riss die Augen auf und zeigte zum Ufer. Der Großvater hatte seinen Speer gegen die Felswand gelehnt. Yeeb-ek bellte wie ein Tobsüchtiger. Jetzt erst sah Carmen, dass er mit einem Strick an einem Felsbrocken festgebunden war. An Stelle des Speers hielt der Großvater ein ellenlanges Blasrohr in der Hand. Sein Gesicht verzog sich zu einem unhörbaren Lachen, dann hob er das Rohr an seinen Mund.
»Pedro!«, schrie Carmen.
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