Gößling, Andreas
glitten dort unten im Wasser umher – Fische von solcher Größe und in solchen wimmelnden Mengen, dass es Carmen grauste bei der bloßen Vorstellung, in dem Fluss schwimmen zu müssen. Das konnte ihnen jederzeit passieren – etwa wenn sie in einer Stromschnelle oder durch einen plötzlichen Wasserwirbel umgeworfen würden. An den Felswänden wuchsen ekelhaft aussehende Pflanzen – falls diese bleichen, schleimigen Gewächse überhaupt Pflanzen waren und nicht vielleicht eine Art primitiver Tiere. Aus finsteren Seitenarmen schossen ihnen immer wieder Schwärme grauer und schwarzer Fledermäuse entgegen. Dann schreckte Carmen furchtbar zusammen, weil sie jedes Mal glaubte, dass es das geheimnisvolle siebte Boot sei.
Eine List des Großvaters? Auch das kam ihr sehr sonderbar vor.
Aber sie war so grauenvoll müde und innerlich aufgewühlt, dass sie überhaupt nicht mehr beurteilen konnte, ob irgendetwas seltsam oder glaubwürdig war. Harmlos oder gefährlich, schlecht oder gut.
Auf einmal ertönte irgendwo in der Ferne ein heiseres Dröhnen, das durch Echos verstärkt wurde und noch längere Zeit nachhallte.
Carmen drehte sich zu Pedro herum und sah an seinem Blick, dass er genauso erschrocken war wie sie. »Yeeb-ek«, sagte sie. »Aber wie kann er hier unten sein?«
»Ohne ihn geht Großvater nirgendwohin.« Kanaas bremste ihr Boot ab, sodass sie nun Seite an Seite dahinglitten. Obwohl der Fluss breit genug war, waren sie bisher immer in einem Abstand von mehreren Bootslängen hintereinander gefahren. »Hast du das immer noch nicht kapiert, Gringa?«
»Ich heiße Carmen. Kannst du dir das vielleicht mal merken, Kanaas?« Heiße Wut kochte plötzlich in ihr hoch – sie hätte ihm am liebsten ihr Paddel auf den Kopf gehauen.
Seine Katzenaugen zogen sich zu schwarzen, schrägen Schlitzen zusammen. »Ihr Weißen seid wie Blinde. Du verstehst es nicht, oder?«
Carmen wollte schon wieder aufbrausen, aber sein Tonfall mahnte sie zur Vorsicht. Lauernd sah der Jaguarjunge sie aus den Augenwinkeln an. Ihre Boote jagten so dicht nebeneinander her, dass sie aufpassen musste, dass sich ihre Paddel nicht in die Quere kamen.
»Was versteh ich nicht?«, fragte Carmen.
»Als Hund zurückzukommen ist eine der schrecklichsten Strafen überhaupt. Aber was soll Großvater denn machen? Er ist ja sein Sohn – unser Vater«, sagte Kanaas und warf Ixom einen raschen Blick zu.
»Wer ist -? Wie? Was? Was hast du gesagt?«, schrie Carmen.
Der Magen schien sich ihr umzustülpen. Erschreckend nah, wie vor ihr geistiges Auge gezoomt, sah sie auf einmal den riesengroßen schwarzen Hund vor sich, mit dem Sombrero auf seinem zottigen Rücken – etwa dem Hut seines Bruders? Schwachsinn!, dachte Carmen. Das gibt’s doch nicht! Das ist doch jetzt wirklich zu viel!
»Yeeb-ek ist unser Vater«, sagte Kanaas. »Damit er sich noch einmal als Mensch verkörpern kann, müssen wir alles tun, was in unserer Macht steht, um seine Schuld abzutragen.«
Die Zwillinge stießen ihre Paddel ins Wasser, und ihr Boot flog wieder davon, so irrwitzig schnell, dass Carmen und Pedro wie rasend rudern mussten, um die beiden nicht aus den Augen zu verlieren.
Carmen keuchte mit Pedro um die Wette. Ihre Lunge und ihr Hals taten weh, ihre Arme und Handgelenke brannten. Sie konnte einfach nicht mehr! Aber die Zwillinge rasten immer noch wie verrückt den unterirdischen Fluss entlang, und wie verzweifelt Carmen auch paddelte, der Vorsprung der beiden wurde immer größer. Auch Pedro hinter ihr würde nicht mehr lange durchhalten, das spürte sie genau. Aber sie durften nicht aufgeben! Wenn sie das Boot der Jaguarzwillinge aus den Augen verloren, war alles aus und vorbei.
Die Felswände links und rechts jagten nur so vorüber. Das Wasser gurgelte und schäumte. Ihre Fackeln – eine vorn, eine hinten am Bootsrand festgemacht – qualmten und flackerten wild. Weit vor ihnen tanzten die Lichter der Zwillinge im Dunkeln.
Plötzlich gab es einen lauten Knall, der tausendfach von den Wänden widerhallte. Im selben Moment erloschen dort vorn die Fackeln und von Ixoms und Kanaas’ Boot war nichts mehr zu sehen.
Sofort zogen Pedro und Carmen ihre Paddel aus dem Wasser.
»Was war das?«, flüsterte Pedro. Die Echos jagten immer noch durch die steinerne Röhre. Außerdem keuchte er so sehr, dass Carmen ihn kaum verstehen konnte. »Das hat sich nicht… wie ein Schuss… angehört«, schnaufte er, »eher so… als ob zwei Boote… zusammengekracht wären.«
Carmen
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