Gößling, Andreas
euch danken, weil aus Wasser geholt.« Ixom nickte in Pedros und Carmens Richtung. Ihr Bruder sah auf einmal wieder ganz böse aus, aber das Jaguarmädchen redete trotzdem weiter. »Kanaas ängstlich wegen Großvater. Mächtiger Schamane, kann Zwillinge mit Zauberfluch töten, wenn will. Wird aber nix machen, sagt Ixom: weil Großvater weiß, dass Zwillinge heilig sind. Gehören Göttern.
Wenn Göttern gehört, kann auch mächtiger Schamane nicht töten.«
Nach diesen Worten schwiegen sie alle vier längere Zeit. Carmen lehnte sich gegen Pedros Brust und sah zu den Sternen hoch. Die Zwillinge, überlegte sie, waren hin und her gerissen zwischen Yax-kech und Tzapalil. So wie Pedro hin und her gerissen war zwischen Santa Elena und dem Dorf im Wald, wo er aufgewachsen war. Und sie selbst zwischen München und Flores, Deutschland und Guatemala. Carmen seufzte. Was für ein Durcheinander, herrje! Also noch mal von vorn. Sie schob sich einen weiteren Pilz in den Mund und kaute.
In Yax-kech hatte der Großvater das Sagen. Tzapalil dagegen war die Stadt der Götter und des Canek, der den Maya einen großartigen Wiederaufstieg zu alter Macht versprochen hatte. Daran musste ja auch der Großvater anfangs geglaubt haben, sonst hätte er die Zwillinge nicht nach Tzapalil gebracht, damit sie dort zu Jaguarpriestern ausgebildet würden. Was immer das überhaupt sein sollte: ein Jaguarpriester. Dann aber war der Vater der Zwillinge vom Jaguar gefressen worden und die Leute hatten das als eine Art Gottesur-teil aufgefasst. Der Vater und sein Bruder – Pedros Vater – hatten den Zorn der Götter herausgefordert, weil sie draußen im Wald alte Maya-Stätten ausgespäht hatten, um die dort verbuddelten Schätze an weiße Sammler oder Wissenschaftler zu verscherbeln. An Wissenschaftler wie Maria!, dachte Carmen und spürte einen heftigen Stich.
Die Pilze hatten wirklich eine wundersame Wirkung – sie fühlte sich schon ganz satt und munter, als ob sie lange geschlafen und üppig gegessen hätte. Aber zur gleichen Zeit kam sie sich etwas beduselt vor – so wie an manchen Tagen, wenn man längst wach ist und herumläuft und sich doch noch fühlt wie im Traum. Hoch über ihnen breitete der riesige Baum seine gefiederten Äste aus. Ein Schwarm großer Fische zog durch den Cenote und es sah aus, als ob die Fische mitten durch den Mond schwimmen würden. Oh ja, heute Nacht war alles möglich.
Also weiter, sagte sich Carmen dann. Die Zwillinge hatten in Tzapalil für ihren Vater und ihren Onkel büßen müssen. Sie mussten dort so sehr leiden, dass sie die Flucht ergriffen und nach Yax-kech zurückgingen. Der Großvater wollte sie seitdem nicht mehr nach Tzapalil lassen, weil er den Herrschern und Priestern dort nicht länger über den Weg traute. Die Zwillinge aber schienen in diesem Punkt nicht seiner Meinung zu sein: Sie hatten in Tzapalil leiden müssen und schwärmten trotzdem immer noch, dass es die schönste Stadt auf der ganzen Welt sei. Sie wollten ganz offensichtlich zurück in diesen Jaguartempel. Das Einzige, was sie bisher zurückgehalten hatte, war das Verbot des Großvaters. Deshalb war Kanaas auch erst so wütend gewesen, als Pedro und sie mit ihnen vor dem Großvater geflüchtet waren. Aber letzten Endes waren die Zwillinge ihnen wahrscheinlich sogar dankbar. Sie allein hätten sich bestimmt nie getraut das Verbot des Großvaters zu übertreten.
»Weißt du eigentlich, unter was für einem Baum wir sitzen?«
Pedros leise Stimme riss sie aus ihren Grübeleien.
»Nein. Wieso?« Carmen lächelte ihn geistesabwesend an. Irgendwie musste sie es schaffen, das Gespräch auf den Jaguartempel zu lenken. Wenn sie verstehen wollte, was in Tzapalil vorging, musste sie die Zwillinge zum Sprechen bringen und vor allem herausbekommen, was ihnen in Tzapalil widerfahren war. Aber sie hatte Angst, die beiden mit ihren Fragen wieder irgendwie zu verletzen. Und noch mehr Angst hatte sie vor dem, was sie ihr vielleicht antworten würden.
»Hörst du mir überhaupt zu?« Pedros Atem kitzelte an ihrem Ohr. »Eine Ceiba. Von so einem Baum ist meine Mutter runtergefallen. Sie war auf der Stelle tot.«
Erschrocken sah Carmen erst in Pedros Gesicht, dann zum Baumwipfel hinauf. »Von so einem riesenhohen Baum? Was hat sie denn da oben gemacht? Wollte sie sich etwa…?« – das Leben nehmen, hatte sie fragen wollen, aber dann brachte sie die Frage nicht heraus. Dabei war es ja die einzige Erklärung: Pedros Mutter musste dort
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