Gößling, Andreas
Fächer angeordnet und die Blätter schimmerten wie grünes Gefieder. Es sah tatsächlich aus, als ob der riesige Baum gleich mit seinen gewaltigen Flügeln schlagen und sich in den Himmel erheben wollte, zu den Milliarden glitzernder Sterne hinauf.
Es war einfach überwältigend. Pedro nahm Carmens Hand und sie ließ es geschehen. Wie gern hätte sie jetzt seine Arme gespürt, wie sie sich sanft und doch fest um sie legten. Aber die Zwillinge kauerten schon unter dem Baum und ließen sie nicht einen Moment lang aus den Augen.
»Das hier ist ein heiliger Ort«, zischte Kanaas. »Also benehmt euch gefälligst. In euren Kirchen würdest du ja auch nicht rumknutschen, Gringa.«
»In unseren Kirchen werden auch keine Opfergaben in Wasserlöcher geschmissen, um irgendwelche Unterweltgötter zu bestechen.«
In Carmen kochte schon wieder die Wut hoch. Gleichzeitig kam sie sich ziemlich blöd vor. Sie ließ sich neben den Zwillingen auf der Terrassenstufe nieder und zog Pedro mit sich herunter. Wie kam sie denn dazu, christliche Kirchen zu verteidigen! Seit ihrer Konfirmation vor mehr als einem Jahr hatte sie keinen Gottesdienst mehr besucht.
»Nein, ihr betet lieber diesen tot gefolterten nackten Mann an.
Trinkt dazu Wein und ruft, es war sein Blut. Esst jeder einen Keks und behauptet, dass es sein Fleisch wäre.« Kanaas sah sie lauernd an.
Plötzlich musste Carmen grinsen. »Du hast ja Recht, Kanaas«, sagte sie. »Sich über Religionen lustig zu machen ist blöd.« Der riesige steinerne Trichter verstärkte jedes ihrer Worte. Er war wie ein gigantisches Megafon, das direkt zum Himmel gerichtet war. Um die heilige Arena herum stand der Wald wie eine Heerschar von Gläubigen. Die Geräusche des Dschungels drangen nur ganz gedämpft zu ihnen herab. »Die einen glauben halt dies, die anderen das, wie mein Vater immer sagt«, fuhr Carmen fort. »Für ihn sind es sowieso alles nur tröstliche Lügenmärchen. Die Leute glauben dran, weil sie den Gedanken nicht aushalten, dass mit dem Tod alles vorbei sein soll.
Oder dass wir jedenfalls nicht wissen können, was danach vielleicht noch kommt.«
Aus schrägen Katzenaugen sahen die Jaguarzwillinge an ihr vorbei. Carmen folgte Ixoms Blick und schaute zum Cenote hinunter.
Im grünen Wasser spiegelte sich die Mondsichel. Hunderttausend Sterne tupften Lichtflecken auf den Cenote, auf Steine und Laub.
Plötzlich war sich Carmen gar nicht mehr so sicher, dass Georg mit seiner Wissenschaftler-Skepsis richtig lag. Auf einmal hatte sie das Gefühl, dass sie durch die Dinge hindurchsehen konnte. Als ob das alles hier – Erde, Mauern, Bäume – nur eine Art Schleier wäre, den man beiseiteschieben könnte oder der eben manchmal durchsichtig war.
»Aber wir wissen es ja«, sagte Kanaas leise. »Diese Welt ist nur eine von vielen Welten. Mit dem Tod ist überhaupt nichts vorbei.
Das weiß doch jeder, oder?« Es klang fast so, als spräche er ihren Gedanken aus. »Das spürt man doch einfach in einem Moment wie diesem. Oder geht dir das nicht so, Carmen?«
Carmen starrte ihn an und musste schlucken. Wunder ohne Ende, dachte sie. Der Jaguarjunge hatte sie nicht Gringa, sondern Carmen genannt! Beinahe ergriffen sah sie zu, wie Ixom einen Brustbeutel unter ihrem Gewand hervornestelte, etwas Schwarzes, Bröseliges herausschüttelte und jedem von ihnen ein paar seltsame Bröckchen in die Hand gab.
»Essen«, sagte das Zwillingsmädchen und deutete ein Lächeln an. »Kauen, kauen, schlucken erst ganz zu Schluss.«
Es war wirklich die Nacht der Wunder, dachte Carmen. Kanaas hatte sie bei ihrem Namen genannt und auch Ixom konnte plötzlich Spanisch! Sie steckte sich eins der schwarzen Bröckchen in den Mund.
»Getrocknete Pilze«, sagte Pedro, der immer noch ihre linke Hand festhielt. »Sie helfen gegen alles – Hunger, Angst, Müdigkeit.«
»Angst?«, wiederholte Carmen. »Ist das vielleicht so ein Rauschzeug?« Aber eigentlich war es ihr egal. Oder nicht egal – sie glaubte einfach nicht, dass irgendetwas, was sie jetzt machten, wirklich falsch sein könnte. Das wäre ja gar nicht möglich an so einem Zauberabend, dachte Carmen und rutschte näher zu Pedro. Die Pilze schmeckten erst wie modriges Holz, aber wenn man lange genug drauf herumkaute, wurden sie auf einmal ganz aromatisch und süß.
Pedro legte seinen Arm um ihre Schultern. Der Himmel glitzerte vor Sternen. Die riesige Mondsichel reflektierte sich im Cenote und in den gestickten Mondsicheln auf ihrem Gewand.
»Wir
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