Gößling, Andreas
hinaufgeklettert sein, weil sie nicht länger leben wollte. Weil sie ihre Familie verloren, in Santa Elena zurückgelassen hatte. Weil sie das Leben in der Blechhütte nicht ausgehalten hatte und das Leben in Yax-kech aber auch nicht mehr ertrug.
»Ob sie sich umbringen wollte, meinst du?« Pedro sah mit einem traurigen Lächeln an ihr vorbei. »Nicht ganz, Carmen. Es stimmt auch nicht so ganz, was ich dir neulich über meine Mutter erzählt habe. Sie ist nicht einfach nach Yax-kech zurückgegangen und vor allem war es nicht ihr eigener Entschluss. Großvater hat andauernd Leute aus dem Dorf zu uns geschickt, die meine Eltern beschimpft und bedroht haben. Die Götter würden sie und uns alle strafen, wenn sie nicht zurück ins Dorf kämen. Wenn Vater nicht aufhörte, mit den bleichen Vernichtern zusammenzuarbeiten, und so weiter. Mein Vater hat sie immer nur ausgelacht, Mutter aber ist mit der Zeit mürbe geworden. Sie hat schlechte Träume bekommen. Und eines Tages, als ich aus der Schule zurückkam, war sie nicht mehr da. Sie haben sie praktisch wie einen entflohenen Sträfling zurück ins Dorf gebracht. Und dort hat Großvater ihr Yeeb-ek gezeigt und gesagt, dass es ihr Schwager sei, den die Götter gezwungen hätten als Hund zurückzukommen. Und dann hat er ihr erklärt, dass sie nur noch eines machen könnte, um die Götter zu besänftigen. Sie sollte von der Ceiba springen, dem heiligen Baum unseres Dorfes. Wie es unsere Vorfahren schon vor tausend Jahren gemacht haben. Wer von der Ceiba springt, gilt als tapferster Held. Er bekommt von den Göttern alles, was er sich wünscht. Gnade für sich selbst und seine Familie, Reichtum und Macht. Er selbst wird in strahlender Gestalt wiedergeboren, als König oder hochgestellter Priester.« Pedro zuckte mit den Schultern. Seine Augen schimmerten und seine Stimme klang ganz gepresst. »Mutter hat das alles bestimmt nicht geglaubt. Aber Großvater hat sie so lange unter Druck gesetzt, bis sie gesprungen ist.«
Es musste an diesen seltsamen Pilzen liegen. Oder am Mond oder am Zauber, der von dieser Stätte ausging. Jedenfalls hatte Pedro sie tröstend umarmt und aus dem Trösten war Zärtlichkeit geworden, aus der Umarmung ein langer, Schwindel erregender Kuss. Jetzt lag sie an seiner Schulter und träumte.
Zusammen gingen sie durch den Wald. Sie und Pedro, Hand in Hand. Sie lachten sich an, da hörten sie auf einmal eine laute Stimme, irgendwo weiter vorn im Dschungel. »Señora Lambert! Ich bitte Sie mir vollständig zu vertrauen!« Das ist doch dieser Cingalez, dachte Carmen und wollte Pedro fragend ansehen. Aber Pedro war auf einmal weg und sie stand ganz allein mitten im Urwald. Was hatte das zu bedeuten? Sie wusste ja, dass sie nur träumte. Aber zur gleichen Zeit spürte sie, dass es mehr war als ein gewöhnlicher Traum. Sie schaute sich um. Offenbar war sie weitergegangen. Jetzt jedenfalls stand sie auf einer kleinen Lichtung, zwischen hohen Bäumen und niedrigem Buschwerk. Und was war das denn – da vorn unter dem Baum mit den kleinen orangegelben Früchten? Ach du lieber Himmel! Das sah doch glattweg aus, als ob dort jemand was verbuddelt hätte. Frische Erde, viel schwärzer als der Boden drum herum. Wie ein frisch geharktes kleines Beet, auch wenn da offenbar jemand versucht hatte seine Spuren zu verwischen! Dieser Jemand hatte hastig ein paar Zweige und Blätter auf die Grabstelle gestreut, aber er hatte seine Sache schlecht gemacht. Er oder sie? Cingalez oder Maria? Jedenfalls viel schlechter als sie selbst in ihrem Garten in Flores, dachte Carmen. Sie hatte die Maske des Maisgottes verbuddelt und darüber so üppig Laub und Zweige verstreut, dass niemand die Stelle finden könnte. Oder doch? Und wer rief da nur schon wieder? Seltsamerweise war es diesmal ihr eigener Name, den sie rufen hörte. »Carmen! Carmen!« Hastig sah sie sich noch einmal auf der Lichtung um. Sie musste sich diese Stelle einprägen, die Anordnung der Bäume, das spürte sie ganz genau. Aber warum nur?
Es war doch nur ein Traum? Also dort die Ceiba, daneben die stach-ligen Büsche, dann der Baum mit den orangegelben Früchten. Die sahen ungefähr wie Mirabellen aus, nur etwas kleiner. »Carmen! He, wach schon auf!«
Sie hatte Mühe, ihren Blick klar zu bekommen. Blinzelnd sah sie um sich. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Augen nach innen gerutscht wären. Wo war sie denn überhaupt? Hey, sie lag doch tatsächlich in Pedros Armen. Um sie herum der steinerne Riesentrichter und
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